Ausgabe #167 | 16. März 2023
Die Aufstellung
Ausgerechnet in der Szene der Familientherapeut*innen wurde der Konflikt jahrelang, offensiv und öffentlich ausgetragen.
Menschen, die eigentlich Konflikte in Familien konstruktiv bearbeiten wollten und sollten, bezeichneten sich untereinander als „Gurus“, „Scharlatane“ und „Blender“.
Im Zentrum der Kritik stand Bert Hellinger.
Der langjährige katholische Priester und spätere Familientherapeut entwickelte eine Form der „Familienaufstellung“, die er in Büchern als Lebenshilfe bewarb und in Großveranstaltungen einsetzte.
Bei einer Familienaufstellung werden Personen stellvertretend für Mitglieder eines Familiensystems angeordnet, um gewisse Muster innerhalb jenes Systems erkennen zu können.
Das Verfahren gründet auf der Vermutung, dass innerlich-grundlegende Beziehungen auch innerlich-räumlich abgespeichert wirken.
Viele Therapeut*innen kritisierten die aus ihrer Sicht unwissenschaftliche Methode Hellingers, der die Aufgestellten nicht nur als rein visuelle Stellvertreter*innen, sondern als aktive Interpret*innen im Prozess einsetze.
Er beobachtete dabei nach seinen eigenen Worten immer wieder, dass „Stellvertreter recht genaue Auskunft über Befindlichkeiten von vertretenen Personen geben können.“
Für manche war das schlicht esoterischer Humbug. Die Deutsche Gesellschaft für Systemische Therapie und Familientherapie nannte den Ansatz gar „ethisch nicht vertretbar“.
Hellinger starb 2019, was den Konflikt nicht gänzlich beilegte, da immer noch Therapeut*innen nach seiner Methode arbeiten.
Und genau darum ging es (neben vielen kleinen Nebensächlichkeiten) in der Debatte: ob die Systemaufstellung, wie Hellinger sie einsetzte, therapeutisch sinnvoll war oder nicht.
Viele Therapeut*innen (und deren Verbände) sagen: War sie nicht.
Warum sprechen wir dann heute in diesem Newsletter darüber? Weil es einen interessanten Ansatz in der Systemaufstellung gibt, der etwas mit Demokratie zu tun hat und der zumindest indirekt von Hellinger mitgeprägt wurde.
Für Hellinger stellten Aufstellungen nämlich nicht primär eine therapeutische Methode dar, sondern sind waren ein Werkzeug, welches in vielen Bereichen zu sinnvollem Einsatz kommen könne.
Die von Hellinger bei Familienaufstellungen entwickelten Vorgehensweisen wurden seit den 1990er Jahren auch auf andere Systeme (Arbeitsteams und Organisationen) übertragen und werden in allgemeinem Kontext systemische Aufstellungen oder Systemaufstellungen genannt. Dort sind sie eher ein Analysetool als eine Therapie. Und so machen sie auch Sinn.
Zum Beispiel für den Verein Mehr Demokratie e.V., der experimentierte nämlich intensiv mit dem Format der Systemaufstellung – und das mit durchaus spannenden Ergebnissen.
Das Projektteam realisiere Systemaufstellungen, bei denen Menschen zum Beispiel für die Demokratie wichtige Elemente wie „die Gewählten“, „die Bevölkerung“, „direkte Demokratie“, „die Klima-Bewegung“, „ein politisches Ziel“ verkörperten. Sie sprachen und bewegten sich stellvertretend für diese Elemente und traten in Beziehung zueinander. So wurden für die Teilnehmenden Zusammenhänge benennbar und neue Handlungsansätze erkennbar.
Das Projekt wurde wissenschaftlich begleitet und evaluiert, bereits 2021 bereits wurde dazu auch ein längerer Bericht veröffentlicht.
Für das Team von Mehr Demokratie war das Format so spannend, dass sie auf dieser Grundlage ein Workshop-Format zum Empowerment von politischen Akteur*innen entwickelt haben: die Politikfelderkundung.
Die Projektverantwortlichen Susanne Socher und Josef Merk schreiben dazu:
„Hilfreich ist die Politikfelderkundung für alle politisch Aktiven, also zivilgesellschaftlich Engagierte und Menschen aus Politik und Verwaltung. Immer wenn sie das Gefühl haben, festzustecken, mit ihren bisherigen Assoziationsketten und Denkgewohnheiten nicht weiter zu kommen, oder auch wenn sie ahnen, dass ihr Handlungsfeld auch ganz anders sein könnte, dann kann eine Politikfelderkundung wertvolle Bewegungsimpulse liefern.“
Sie empfehlen das Format nicht als Beteiligungsmethode, sondern als Chance für unterschiedliche Akteur*innen, Demokratie tiefer zu verstehen und daraus demokratische Handlungsoptionen abzuleiten.
Auch für den Verein selbst war das Projekt erkenntnisfördernd. Der Verein selbst setzte lange Jahre primär auf mehr direktdemokratische Möglichkeiten in unserem Politiksystem – und tut das auch weiterhin. Relativ neu ist das Engagement für mehr dialogische Prozesse, unterlegt auch durch die Erkenntnisse aus den praktischen Systemaufstellungen. Socher und Merk stellen in ihrem Bericht fest, dass es wohl einen, „sehr hohen Bedarf an Dialogformaten zwischen Bevölkerung und Politik gibt.“
Und da schließt sich der Kreis.
Tatsächlich können Workshops mit solchen Systemaufstellungen nicht nur die Erkenntnis bringen, dass es mehr Dialog braucht, sondern auch komplexe dialogische Formate zu schwierigen Themen in der Anfangsphase aufschließen, den Teilnehmenden die Chance geben die Prämissen, Zwänge und Denkmuster der anderen zu verstehen und so wertschätzende Debatten fördern.
„Es ist das Erfahren der anderen Sichtweisen, die einen berühren oder irritieren und dadurch zum Denken und Spüren anregen. Teilnehmende berichten oft von Aha-Momenten und überraschenden Einsichten“, schreibt Mehr Demokratie auf der Webseite zum Projekt.
Grund genug, das Format zu erwägen, wenn wir das nächste Mal einen Dialog in einem herausfordernden Umfeld gestalten wollen.
Warum stellen Sie Ihrem Plädoyer für die Methode des Aufstellens in der politischen Analyse und Dialogarbeit zunächst das triviale Hellinger-Bashing voraus? Müssen Sie sich mit dem Wolfsgeheul zuerst dafür rechtfertigen, dass im repräsentierten Wahrnehmen offenbar doch etwas Wahres steckt, so dass Sie es schließlich sogar empfehlen? Fragwürdig. Ihr Fazit dürfte entsprechend etwas plausibler ausfallen: Wenn Repräsentierende die inneren Informationen aus Politikfeldern widergeben können, warum dann nicht auch aus einzelnen Menschen im Familiensystem?
Ja, bei diesem Beitrag habe ich wohl einige Nerven getroffen. Ihnen erscheint die Kritik an Hellinger unangemessen, an anderer Stelle wurde mir vorgeworfen, ich wäre zu gnädig mit ihm gewesen. Tatsächlich habe ich diese alles andere als triviale Kritik an der spezifischen Hellinger-Methode der Aufstellung vorangestellt, damit die Leser*innen für sich einordnen können, welch unterschiedliche Perspektiven es auf das dann Folgende geben kann. Dies ist dann entsprechend auch kein uneingeschränktes Plädoyer für die Methode des Aufstellens sondern eher ein Vorschlag für den Einsatz in ganz bestimmten Situationen. Das von Ihnen adressierte „Repräsentative Wahrnehmen“ ist tatsächlich problematisch und Grundlage zahlreicher Konflikte. Das Prinzip hinter den zunehmend eingesetzte Dialogischen Verfahren ist genau, diese Bias des Handelns auf Basis repräsentativer Wahrnehmung zu überwinden. Gezielt eingesetzt als Methode zur Erkenntnis unterschiedlicher Wahrnehmungen verschiedener Beteiligter kann sie nützen. Wenn die Akteure direkt anschließend darüber in einen Dialog kommen. Generell leidet unsere Demokratie aber eher unter einer Überbewertung der „repräsentativen Wahrnehmung“ und deren Verwechslung mit Wirklichkeit.
Ich knüpfe direkt am Ende an: „Verwechslung mit Wirklichkeit“. Als bekennende Konstruktivistin, die davon ausgeht, dass es „die Wahrheit“ nicht gibt (wer sollte sie definieren, die Definitionsmacht haben?), sondern viele Aspekte von Wirklichkeit, schätze ich Aufstellungen seit über 30 Jahren, um mir und anderen mögliche Aspekte von Wirklichkeit aufzuzeigen, die sonst eventuell übersehen oder ignoriert würden. Seit fast 20 Jahren arbeite ich mit dem Format ‚politik im raum‘, mit dem ich gesellschaftspolitische Themen behandle.
Als Mitglied von mehr demokratie finde ich es wunderbar, dass sich nun auch diese Institution mit Aufstellungen befasst, sie mehr ins Gespräch bringt und zu dialogischen Arbeitsformen einlädt.
Schaden können Aufstellungen m.E. nur dann, wenn sie von Gurus angeleitet werden, ob die dann Hellinger oder anders heißen, die ihre eigenen Interpretationen zur „Wahrheit“ erklären. Dann bleibt das dialogische Element ja auch auf der Strecke.
Damit Aufstellungen von Nutzen sind, braucht es Neugier und Offenheit der Beteiligten. Wer nur in seiner festen Meinung bestätigt werden will, wird von Aufstellungen nicht profitieren. Und auch nicht von Einladungen zu Dialogen. Denn auch die brauchen Neugier und Offenheit für andere als die eigene Meinung.
Das wünsche ich uns allen: Neugier und Offenheit für andere Standpunkte, damit Aufstellungen und Dialoge uns einander näher bringen und für mehr gegenseitiges Verständnis sorgen!