#171 | Das tödliche Dreieck

Wie Pariser E-Scooter und Berliner Klimaschützer uns eine Lektion in Sachen Demokratie erteilen.

Ausgabe #171 | 13. April 2023

Das tödliche Dreieck

Sind Sie schon mal mit einem E-Scooter gefahren? Macht richtig Spaß. Und ein gutes Gewissen macht es auch.

Tatsächlich können E-Scooter gerade in Großstädten dabei helfen, weniger Auto zu fahren, weniger Blech zu bewegen, weniger Umweltbelastung zu produzieren.

Soweit die Theorie.

In der Praxis sind die Dinger vor allem ein Problem.

Und ein Risiko. Sie stehen an den unmöglichsten Stellen, oft im Rudel. Sie blockieren Gehwege. Oder sie gefährden Passant*innen, weil ihre Fahrer*innen rücksichtslos über das Pflaster brettern.

In Berlin gibt es pro Tag im Schnitt mehr als drei erfasste Unfälle. Die Dunkelziffer ist hoch.

In der Hauptstadt sprechen sie schon vom tödlichen Dreieck: Die Kombination aus E-Scooter, Alkohol und Straßenbahnschienen. Darin verfangen sich die kleinen Räder nämlich gerne. Vor allem, wenn sie von alkoholisierten Gymnasiast*innen auf Studienfahrt für nächtliche Wettrennen missbraucht werden.

In Berlin regen sich gefühlt alle über die E-Scooter auf.
In Paris nur noch bis September.

Dann greift das Ergebnis einer Bürgerbefragung. Vor wenigen Tagen sprachen sich 89 Prozent der befragten Pariser*innen für die Abschaffung der Mietroller aus.

Ein leuchtendes Beispiel für gelebte direkte Demokratie.

Könnte man meinen.

Doch schon regt sich Kritik. Sascha Lobo ließ im SPIEGEL kein gutes Haar an der Abstimmung. Und am ebenfalls kürzlich stattgefundenen Klima-Volksentscheid in Berlin auch nicht.

Er formuliert, wie immer meinungsstark, gar Vorwürfe wie „Wutromantik“ und „politische Manipulation“ an die Adresse der jeweiligen Initiator*innen.

Das kann man für ausgemachten Blödsinn halten. Aber dennoch lohnt sich ein Blick auf beide direktdemokratischen Vorgänge.

Weil sie so unterschiedlich sind – und genau deshalb die gleichen Herausforderungen adressieren.

In Paris ging die Initiative dazu unmittelbar von der Bürgermeisterin Anne Hidalgo aus.

In Berlin war es eine breite Initiative gegen den amtierenden Senat.

In Paris war es eigentlich nur eine unverbindliche Bürgerbefragung. Die Bürgermeisterin hatte jedoch vorher schon zugesagt, das Ergebnis umsetzen zu wollen.

In Berlin wäre das Ergebnis des Volksentscheids verbindlich gewesen, aufgrund der sehr unkonkreten Thematik (Klimaneutrales Berlin bis 2030) eine tatsächliche Umsetzung eher ungewiss.

In Paris war eine Mehrheit der Teilnehmenden dafür. Es wird nun umgesetzt.

In Berlin war ebenfalls eine Mehrheit der Teilnehmenden dafür. Der Volksentscheid ist jedoch gescheitert.

Denn in Paris gibt es kein Mindestquorum. Gezählt wurden alleine die abgegebenen Stimmen.

In Berlin hätten es nicht nur die Mehrheit der Abstimmenden sein müssen, sondern auch mindestens 25 Prozent der Wahlberechtigten.

Und das heißt: In Paris haben etwas über 6 Prozent der Wahlberechtigten für das Leihroller Verbot gestimmt, in Berlin etwas über 18 Prozent für Klimaneutralität an 2030.

Und so machen diese beiden Fälle das große Dilemma der Direkten Demokratie deutlich – und werfen auch grundsätzliche Fragen zum Verhältnis von direkten und repräsentativen Entscheidungen auf.

Man kann durchaus wie Sascha Lobo kritisieren, dass letztlich nur 6 Prozent der Wahlberechtigten eine Entscheidung herbeiführen konnten.

Nur konsequent wäre es dann aber, diese Kritik auch auf unsere Wahlen auszudehnen. Dort gibt es keine Mindestquoren.

Rechnet man die Ergebnisse der letzten Bundestagswahl auf die Anzahl der Wahlberechtigten um, haben zwei der drei aktuellen Regierungsparteien ebenfalls nur einstellige Prozentzahlen eingefahren.

Tatsächlich wird in Deutschland Direkte Demokratie immer noch (und das längst nicht nur von den Regierenden) als Konkurrenz zu Parlamenten und Regierungen verstanden.

Und je nach Interessenlage wird mit allerlei legalen, manchmal aber auch ethisch fragwürdigen Tricks, versucht, die jeweils favorisierte Form in Vorteil zu bringen.

Die Politikwissenschaft weiß zum Beispiel sehr gut, dass die Beteiligung an Volksentscheiden erheblich höher ist, wenn sie mit Wahlen kombiniert werden.

Die Politik weiß das aber auch.

Und so fand der Berliner Volksentscheid nur wenige Wochen nach der Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus statt.
Hätte man beide kombiniert, wäre der Volksentscheid mit höchster Wahrscheinlichkeit durchgegangen. Die Terminwahl (durch die Regierenden) war deshalb kein Zufall.

Aus Paris und Berlin können wir viel lernen.

Vor allem aber eines: Wir haben bei uns in Deutschland noch lange keine vernünftige Balance zwischen Repräsentativer Demokratie, direktdemokratischen Entscheidungen und auch den dialogischen Verfahren gefunden.

Noch immer wird von zu vielen Akteur*innen zu oft je nach taktischer Ausgangslage, die eine Säule gegen die anderen ausgespielt. Und das gilt nicht nur für die Politik.

Welche Auswirkungen diese taktische Säulenwahl für die Stabilität unserer Demokratie hat, das schauen wir uns in der kommenden Woche genauer an.

Dann schauen wir uns genauer an, warum ausgerechnet jetzt eine Landesregierung direktdemokratische Entscheidungen noch weiter erschwert, warum der von der „Letzten Generation“ geforderte „Gesellschaftsrat“ möglicherweise keine gute Idee ist und warum sich gerade immer mehr Politiker*innen stattdessen für „Bürgerräte“ erwärmen …

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2 Kommentare
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Ulrich kcch
14. April 2023 11:03

Vielen Dank Herr Sommer für diese Hintergründe und Infos. Zeigt auch: Demokratie lebt auch davon dass die Menschen sich Zeit nehmen um sich zu informieren und die „Nachrichten“ hinterfragen und einsortieren können in den Kontext und selbst nachforschen. Dafür fehlt oft die Zeit und auch die Energie.

Ute Finckh-Krämer
14. April 2023 13:40

Ich bin mir nicht so sicher, dass beim Klimavolksentscheid in Berlin die Ja-Stimmen die Nein-Stimmen überwogen hätten, wenn die Abstimmung gleichzeitig mit den Wiederholungswahlen stattgefunden hätte. Die Wähler*innen von AfD, CDU und FDP hätten alle mit Nein gestimmt, die von Linken und SPD teilweise, vielleicht sogar größtenteils. Die Grünen, die als einzige Partei für ein Ja zum Klimavolksentscheid mobilisiert haben, konnten vermutlich ihre Anhängerschaft beim separaten Abstimmungstermin weitaus besser mobilisieren als die anderen Parteien. Das ergab dann vermutlich den – trotzdem noch für viele unerwartet knappen – Vorsprung der Ja-Stimmen gegenüber den Nein-Stimmen.

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