Ausgabe #172 | 20. April 2023
Die Sache mit den Säulen
Das Projekt war groß. Und prestigeträchtig. Und teuer. Eigentlich viel zu teuer. Und völlig aus der Zeit gefallen.
Im Volk gab es wenig Verständnis für so eine Geldverschwendung.
Doch den Regierenden war es wichtig.
Also wurde es massiv beworben. Die Kosten wurden kleingerechnet. Und so verpackt, dass sie den Haushalt nicht überforderten, sondern aus einem „Sondervermögen“ kamen.
So geschehen vor rund 2.500 Jahren.
Im alten Athen wollte Perikles seinen Traum von der Akropolis realisieren.
Dafür war das Beste vom Besten gerade gut genug.
Elfenbein, Marmor, Gold und Ebenholz sollten verbaut werden. Die Säulen sollten außergewöhnlich groß und prächtig werden.
Also versprach er dem skeptischen Volk vor allem: Arbeitsplätze.
Und das praktisch umsonst. Denn das Geld dafür sollte aus der Kasse des Attischen Seebundes kommen. Darin hatten Athens Verbündete eingezahlt, um einen gemeinsamen Schutz zu finanzieren.
Perikles war erfolgreich, die Verbündeten waren not amused. Und noch heute bewundern Tourist*innen Tag für Tag die prächtigen Säulen mitten in Athen.
Diese Säulen sind es, die regelmäßig vor unserem geistigen Auge erscheinen, wenn wir über „Säulenkonzepte“ nachdenken.
Wir alle haben schon von den drei Säulen der Nachhaltigkeit gehört: Ökonomie, Ökologie und Soziales.
Und auch im Konzept der „Vielfältigen Demokratie“ bemühen wir das Säulenbild. Hier sind es die repräsentative, die direktdemokratische und die dialogische Säule. Und auch hier arbeiten wir mit dem klassischen Tempelbild.
Die Botschaft: Alle drei sind gemeinsam Stützen einer starken Demokratie.
Sie tragen jeweils ihren Teil dazu bei, dass auch bei schwierigen Fragen gemeinwohlorientierte und breit akzeptierte Entscheidungen möglich sind.
Im Idealfall tragen alle Säulen eine vergleichbare Last. Das ist ein schönes Bild. Es verdeutlicht den Idealzustand. Und zugleich auch ungewollt die realen Gefahren.
Denn da, wo es mehrere Säulen gibt, könnte jemand auf die Idee kommen, einzelne davon zu schwächen oder gar ganz zu ignorieren. Solange die anderen Säulen dick und stabil genug sind, bleibt das Bauwerk stehen.
Vielleicht bilden sich Risse, kleinere Instabilitäten, möglicherweise bröckelt es sogar ein wenig. Aber dennoch kann das Gebilde auch nach vielen Generationen noch leidlich erkennbar sein, so wie der Parthenon Tempel auf der Akropolis.
Das ist verlockend.
In der Nachhaltigkeit setzte die Wirtschaft viel zu lange auf die tragende Säule Ökonomie. Die soziale und die ökologische Säule wurden oft eher als Dekoration wahrgenommen.
Deshalb gilt das Säulenmodell in der Nachhaltigkeit längst als überholt, neuere Konzepte wie das Zwiebelschalenmodell funktionieren besser.
Und auch in der Demokratie erleben wir zwischen den Säulen oftmals eher Konkurrenz als Synergien.
Und das in den Köpfen verschiedener Akteure.
In Schleswig-Holstein zum Beispiel betrachtet die Regierungskoalition aus CDU und GRÜNEN gerade die direktdemokratische Säule als besonders lästig – und will Bürgerbegehren drastisch erschweren.
Die Konkurrenz zur repräsentativen Säule wird sogar explizit im Gesetzentwurf verankert.
Beschließt ein Gemeinderat zum Beispiel eine Bauleitplanung mit Zwei-Drittel-Mehrheit, soll ein Bürgerbegehren ganz ausgeschlossen werden.
Und selbst ein erfolgreiches Begehren soll nach zwei Jahren wieder durch den Rat aufgehoben werden können.
Hier soll eine Säule auf Kosten einer anderen gestärkt werden. Statt Synergien wird hier sogar eine Art „Krieg der Säulen“ gedacht.
Dieses konkurrierende Verständnis der demokratischen Säulen ist aber nicht nur den Regierenden vorbehalten.
Taktische Säulenkriege kennen wir auch bei zivilgesellschaftlichen Akteuren.
Die Klimakleber der „Letzten Generation“ fordern zum Beispiel neben einzelnen Sofortmaßnahmen wie einem Tempolimit auch einen „Gesellschaftsrat“.
Eine Notfallsitzung, um die Wende einzuleiten
Wenn wir die Klimakatastrophe verhindern wollen, müssen wir Ernst machen. Wir fordern die Regierung deshalb dazu auf, eine geloste Notfallsitzung einzuberufen, um die Wende einzuleiten: Den Gesellschaftsrat.
Geloste Bürger*innen sollen ein klimakompatibles Zukunftskonzept für unser Land erarbeiten – und die Regierung sich vorab verpflichten, diesen Plan ins Parlament zu bringen.
Die Taktik: Weil unsere repräsentativen Strukturen den Klimaschutz nicht ernsthaft genug umsetzen, sollen diese – durch Straßenaktionen – gezwungen werden, Macht an ein Gremium abzugeben, das wir bislang eher der dialogischen Säule zurechnen.
Unabhängig davon, ob man die inhaltliche Kritik am mangelnden Kilmaschutz teilt: Aktionen und Zielvorstellungen der Protagonist*innen setzen nicht auf Synergien, sondern auf Konflikt zwischen den besagten Säulen.
In der aktuellen Bundespolitik wird der Gesellschaftsrat abgelehnt – gleichzeitig aber die Idee von „Bürgerräten“ vorangetrieben. Die Zusammensetzung (losbasiert, aber doch irgendwie „repräsentativ“) ist vergleichbar. Die Verbindlichkeit jedoch fehlt.
Die Hoffnung mancher Protagonist*innen: Keine Konkurrenz zwischen der dialogischen und der repräsentativen Säule.
Das ist gut.
Die weitergehende Erwartung: Die dialogische Säule bekäme eher dekorativen als tragenden Charakter.
Das ist gefährlich.
Vom ersten Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ spricht heute kein Mensch mehr. Und das liegt nicht nur am Thema, das eine große Distanz zu den aktuellen Problemen der Bevölkerung aufwies.
Tatsächlich unterblieb die Verarbeitung der Ergebnisse in Parlament und Regierung faktisch komplett. Sie hatten keine Relevanz. Was die eine Säule produzierte, interessierte die andere nicht.
Verständlich also, dass Bürgerräte gerade in der repräsentativen Politik an Attraktivität gewinnen: Sie sind mit der Erwartung verbunden, die repräsentative Säule maximal in Ruhe zu lassen.
Die Erwartungen in der Zivilgesellschaft sind teilweise exakt entgegengesetzt. Deshalb stehen uns hier einige spannende Jahre bevor.
Vor allem auch deshalb, weil wir etwas völlig anderes brauchen. Die repräsentative Säule allein trägt unsere Demokratie schon lange nicht mehr. Die Risse sind da, es bröselt.
Um im Bild zu bleiben: Da hilft es auch nichts, die anderen Säulen weiter zu schwächen (wie in Schleswig-Holstein) oder hübsch zu dekorieren (wie bei den Bürgerräten).
Die Allianz Vielfältige Demokratie formuliert es klar:
„In der Realität stehen die unterschiedlichen demokratischen Beteiligungsformen häufig isoliert nebeneinander oder werden gegeneinander ausgespielt.“
Was wir stattdessen brauchen, ist ein dynamisches und integratives Gesamtkonzept.
Wann und zu welchen Themen braucht es Dialoge? Wann müssen und können Entscheidungen abschließend von Parlamenten getroffen werden?
Welche Themen sind so essenziell, dass alle mitentscheiden müssen?
Und wie bekommen wir das so organisiert, dass nicht das eine Format gegen das andere ausgespielt wird?
Dass die Zukunft der Demokratie eine Vielfältige Demokratie ist, scheint klar. Doch wie wir diese Vielfalt orchestrieren – darauf haben wir noch keine gesellschaftliche Antwort.
Die Debatte darüber hat gerade erst begonnen.
Im Kursbuch Bürgerbeteiligung #4 habe ich beschrieben, dass die drei Säulen zwei verfeindeten Schwestern und ihrem vermittelnden Bruder ähneln. Meine These ist, dass eine Verknüpfung der drei Partizipationsformen in der Vielfältigen Demokratie dann funktionieren kann, wenn alle Akteur:innen gewillt sind, über ihren Schatten zu springen, und sich auf neue Rollenverständnisse einzulassen. Download hier: https://andreas-paust.de/zwei-verfeindete-schwestern-und-ihr-vermittelnder-bruder-repraesentative-direkte-und-dialogorientierte-partizipation-auf-lokaler-ebene/
Jetzt weiß ich, wo die Grafik herkommt. Gesehen habe ich sie in einem Workshop von Mehrdemokratie e.V. in Erfurt und gebrauchen könnte ich sie in der aktuellen Diskussion über den Fortbestand der dialogischen Demokratie, wenn weder dieser Begriff noch der der delibertiven Demokratie bzw. Beteiligung bekannt ist. Hier wird gerade versucht zur Verbesserung der offensichtlich verbesserungswürdigen Strukturen, die Strukturen nicht etwa zu verändern, sondern am besten aufzulösen. Irgendwo würde ich gern eine Grafik sehen, die speziell auf Beteiligung ähnliches aussagt. Ist die Verwaltung dann Dach oder Fundament des Hauses? Für beide Varianten würden mir Gründe einfallen. Eine vierte Säule wäre das wohl nicht. Oder?
Die Verwaltung ist – im Idealbild – keine Säule demokratischer Prozesse, weil ja als Exekutive nicht Schauplatz demokratischen Aushandelns. Dazu sind die Verwaltungsmitarbeitenden nicht legitimiert, sondern Hilfswerkzeug zur Umsetzung der in den demokratischen Säulen ausverhandelten bzw. entschiedenen Ergebnisse. In der Praxis griffe das aber etwas zu kurz, denn wir wissen alle, dass gerade in Kommunen Verwaltung eben auch ganz konkreten Einfluss auf die Ausgestaltung und die Ergebnisse demokratischer Prozesse hat. Da unterscheidet sich die Praxis von der sauberen Theorie …