Ausgabe #179 | 8. Juni 2023
Schwer in Ordnung
Hannah Kiesbye aus Pinneberg ist eine der jüngsten Deutschen, die je das Bundesverdienstkreuz erhalten haben. 2020 zeichnete Bundespräsident Frank-Walter-Steinmeier sie damit aus.
Damals war sie 17. Doch die Geschichte, die zu dieser Auszeichnung führte, begann schon 3 Jahre zuvor.
Hannah wurde mit dem Down-Syndrom geboren. Und galt deshalb als behindert. Als schwerbehindert sogar. Deshalb erhielt auch sie einen Schwerbehindertenausweis, wie zigtausend andere Menschen.
Die Gesellschaft räumt ihnen dadurch bestimmte Rechte ein, darunter je nach Behinderung auch die kostenlose Nutzung des Nahverkehrs.
Eigentlich also eine gute Sache. Aber, wie so oft, in der Umsetzung (durch Menschen ohne Behinderung) nicht ohne Ecken und Kanten.
Hannah zum Beispiel fühlte sich durch den Begriff „schwerbehindert“ diskriminiert. So wie viele andere Menschen auch.
Hannah griff zur Selbsthilfe: Sie bastelte ihren Schwerbehindertenausweis kurzerhand um in einen „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“.
Ein Foto davon mit einem kleinen Text von ihr veröffentlichte eine Hamburger Vereinszeitung.
Und trat damit eine Lawine los.
In den Sozialen Medien, dann auch in den Zeitungen kursierte die Geschichte. Erste Menschen beantragten bei Ämtern einen eigenen „Schwer-in-Ordnung-Ausweis“.
Erst in Hamburg, dann in Rheinland-Pfalz wurde diese Möglichkeit tatsächlich geschaffen. Andere Länder folgten. Schon 2019 waren über 10.000 „Schwer-in-Ordnung-Ausweise“ ausgegeben worden.
Natürlich ist es billig, einfach einen Ausweis umzubenennen. Und nicht viel mehr als ein symbolischer Akt. Doch belegte auch diese Geschichte wieder einmal:
Entscheidungen, die das Leben einer gesellschaftlichen Gruppe nachhaltig beeinflussen, sollten nicht ohne deren Beteiligung getroffen werden.
Das ist leicht gesagt, doch in der Umsetzung anspruchsvoll. Weil es relativ einfach ist, jene Gruppen zu beteiligen, die ohnehin gesellschaftlich wirksam sind.
Menschen mit überdurchschnittlicher Bildung und überdurchschnittlichem Einkommen sind tendenziell in Beteiligungsprozessen sehr viel leichter zu gewinnen und damit einflussreicher als Bürger*innen auf der anderen Seite der Skala.
Das ist gleich doppelt problematisch: Denn genau die überrepräsentierten Gruppen sind auch schon in Parlamenten und auf Entscheidungsebene in den Verwaltungen überdurchschnittlich vertreten und wirksam.
Und sie sind oft weit weniger auf staatliches Handeln, auf Rahmensetzung und Unterstützung angewiesen als eben jene Gruppen, die selten beteiligt werden.
Das Leben von Menschen mit Behinderung, mit Migrationshintergrund, in prekären Lebenssituationen, mit hoher Erziehungs- oder Pflegebelastung wird überdurchschnittlich stark von öffentlichen Regeln, Rahmensetzungen und Verwaltungshandeln geprägt.
Sie an deren Ausgestaltung zu beteiligen, ist also eine besondere Aufgabe. Hannah Kiesbye hat mit ihrer Aktion dafür sensibilisiert.
Und tatsächlich ist diese Beteiligung zwar herausfordernd, aber möglich.
Drei aktuelle Beispiele zeigen das: Die Allianz Vielfältige Demokratie hat ihren Medienpreis in der vergangenen Woche an Thilo Schmidt vom Deutschlandfunk vergeben. In seiner Audioreportage „Sarah geht wählen“ begleitete er die Protagonistin Sarah, eine Frau mit geistiger Behinderung im Rahmen der Bundestagswahl 2021.
Für viele Menschen mit geistiger Behinderung war dies die erste Bundestagswahl, an der sie aktiv teilnehmen durften. Das ist ein wichtiges Signal der Inklusion. Und erst der Anfang eines Weges.
In seiner Reportage lernen wir zahlreiche Hürden kennen, die noch überwunden werden müssen. Eine davon: Der Wahl-O-Mat ist schon mal nicht barrierefrei.
Um Barrierefreiheit ging es auch in der Stadt Bregenz. Da gab es nämlich viel zu tun. Doch bevor die Verwaltung loslegte, passiertes das, was naheliegt, aber immer noch eine Ausnahme ist: Die Betroffenen wurden zum Zentrum des Prozesses.
In zahlreichen gemeinsamen „Stadtteilspaziergängen“ erkundeten Stadtplaner*innen und Menschen mit unterschiedlicher Behinderung die Wege – und Hürden – in der Stadt. Schließlich wurden gemeinsam über 180 Verbesserungen erarbeitet.
In Baden-Württemberg sollte der Landesaktionsplan für Menschen mit Behinderung fortgeschrieben werden – und das unter intensiver Beteiligung der betroffenen Gruppen.
Es gelang, diese für den Prozess zu gewinnen, doch damit begannen weitere Herausforderungen. Vieles, was in herkömmlichen Beteiligungsprozessen von geringerer Relevanz ist, wurde plötzlich zum Hauptthema.
Alle Dokumente mussten in leichter Sprache verfasst werden, die Räume mussten barrierefrei sein, Tagesordnung und Pausenrhythmus wurden von den Teilnehmenden geprägt, Dokumente mit langem Vorlauf verschickt.
Interessant ist: Nahezu alle Maßnahmen sind genauso oder ähnlich grundsätzlich für andere selten beteiligte Gruppen geeignet – und sie schaden auch bei klassischen Beteiligungsprozessen nicht.
Tatsächlich funktionieren erfolgreiche Beteiligungsprozesse bei allen Gruppen, die als „beteiligungsfern“ bezeichnet werden, gar nicht so grundlegend anders.
Sie stellen nur deren Bedürfnisse stärker in den Mittelpunkt, nehmen mehr Rücksicht, sind oft zugewandter, lassen mehr Zeit und Raum für Diskurs und Vergewisserung.
Tatsächlich sind das alles Merkmale, die alle Beteiligungsprozesse besser machen können.
Egal, wer wen wozu beteiligt: Ein Blick auf diese Erfahrungen lohnt sich. Er kann dabei helfen, dass der nächste Prozess nicht nur gut wird, sondern, wie Hannah sagen würde:
Schwer in Ordnung.
Hallo Herr Sommer,
ich bemühe mich in meiner Arbeit schon sehr, die Beteiligung von Menschen möglichst niedrigschwellig zu gestalten und Allen eine Beteiligung möglich zu machen, finde in Ihren Texten aber immer noch und wieder einige Aspekte und Anregungen, die meine Arbeit besser machen können. Danke dafür.
Herzliche Grüße aus dem Ostfrieischen
Heike Brunken-Winkler
Vielen Dank! Es freut einen wenn man etwas zumindest gelegentlich Nützliches produziert 🙂
Danke für die Sensibilisierung. Ihre Hinweise kann ich bei den jetzt anstehenden Beteiligungsprozessen, die durch die Krankenhausreform in den Regionen notwendig werden, verwenden. Denn es müssen sich besonders die aktiv beteiligen und mitgestalten, die ein besseres Gesundheitssystem dringender brauchen als andere.
Liebe Christine Becker, das ist genau die so einfach und prägnant beschriebene aber schwer zu realisierende Zielvorgabe. Von alleine wird das nicht gelingen. Auch wenn wir Beteiligung nur anbieten, wird das nicht gelingen. Diese besonders vulnerablen Gruppen müssen wir intensiv ansprechen, einladen, aufsuchen, motivieren. Das ist zäh. Aber anders macht Beteiligung wenig Sinn.