Ausgabe #181 | 22. Juni 2023
Heute schon gewischt?
Sie kennen die App mit dem Wischeffekt? Tinder. Schon mal probiert?
Tinder-Profis wissen wie’s geht. Alle anderen haben zumindest schon mal davon gehört.
Es genügt, ein Bild und eine kurze Selbstdarstellung von sich zu platzieren. Schon kann man sich andere Tinder-User anschauen und entscheiden, ob es „passt.“
Swipen, also Wischen nach rechts bedeutet „Like“, wischen nach links ein „nein, danke“. Ein gegenseitiges „Like“ ergibt ein Match, dann kann man miteinander chatten – vorzugsweise, um sich schnell zu treffen.
Die Chance, schnell und unkompliziert passende Partner*innen im digitalen Raum zu finden – das ist das Erfolgskonzept der App.
Bei Tinder geht es um Sex. Aber nicht nur. Und nicht allen.
Shimon Hayut zum Beispiel war nicht wegen Sex auf Tinder unterwegs. Und auch nicht unter seinem Namen. Er hieß mal Simon Leviev, auch Mordechay Tapiro.
Auf Tinder lernte er Frauen kennen. Gab den Gentleman. Brachte sie dazu, ihm zu vertrauen. Sich in ihn zu verlieben.
Und dann nahm er sie finanziell aus, brachte sie um ihr Vermögen und ihr Selbstwertgefühl.
Das machte er immer wieder mit verschiedenen Namen und verschiedenen Frauen, ergaunerte so Millionen.
Immer begann es auf Tinder. Es hätte auch eine andere Plattform sein können. Jeden Tag, jede Stunde fallen Menschen im digitalen Raum auf Betrüger*innen rein.
Weil die etwas beherrschen, das man digital Socializing nennt. Die Kunst, im digitalen Raum Beziehungen und Vertrauen aufzubauen. In einem Raum, in dem das alles andere als leicht ist.
Wir haben es alle im Verlauf der Coronapandemie gemerkt: Bereits sich im digitalen Raum mit Menschen zu treffen, die man kennt, gemeinsam mit ihnen an etwas zu arbeiten, zu diskutieren, gar über kontroverse Themen, ist ungeheuer anspruchsvoll.
Das mit Menschen zu tun, die man nie zuvor getroffen hat, gelingt nur selten.
Wir merken dann: Digital Socializing ist schwer, auch wenn man keine Betrugsabsichten hegt.
Und das ist eine Herausforderung eben auch und ganz besonders für demokratische Diskurse, für Beteiligungsprozesse, für gemeinsame Gestaltung, für Klärung und Ausgleich von Interessen und Konflikten.
Getrieben durch die digitale Entwicklung, beschleunigt noch einmal durch die Pandemie, haben wir mehr und mehr politische Teilhabe in den digitalen Raum verlagert.
Und das bringt neue Herausforderungen. Denn Deliberation, also Diskurs mit Aushandlungscharakter, ist vertrauenssensibel. Sie setzt zum Teil Vertrauen voraus, muss aber vor allem Vertrauen aufbauen.
Das funktioniert schon in realen Interaktionen oftmals nur eingeschränkt. Im digitalen Raum häufig gar nicht.
Von den erfolgreichen Tinder-Schwindler*innen dürfen wir uns da nicht täuschen lassen: Es ist ihr Job, sie suchen sich gezielt empfängliche Menschen aus und fahren minutiös geplante Strategien. Und haben dennoch eine Erfolgsquote im Promille-Bereich. Die allermeisten fallen ja nicht auf sie rein.
Sie zeigen uns aber eines: Grundsätzlich ist digital Socializing nicht unmöglich.
Und es bedarf dazu auch nicht zwangsläufig krimineller Energie.
Doch digital Socializing benötigt Raum, Zeit, Ressourcen und Kreativität.
Die klassischen Videokonferenztools sind dafür durchaus nutzbar. Das Geheimnis ist hier vor allem die Gruppengröße. Vier bis maximal sechs Personen können in einer Videokonferenz Vertrauen bilden.
Viele klassische Kleingruppenmethoden funktionieren auch hier. Dank Breakout-Sessions, die fast alle Anbieter im Programm haben, kann man sogar kurze Phasen von Zwiegesprächen führen und Gruppendynamiken beinah wie in Präsenz entwickeln und beeinflussen.
Werden es mehr Teilnehmende sind Videokonferenzen als Socializing-Tool kaum noch nutzbar – schon allein, weil man evtl. einige oder sogar viele Teilnehmende schlicht nicht sieht.
Foren, Konsultationsplattformen und vergleichbare Tools, die auf asynchrone schriftliche Kommunikation setzen, können vieles leisten. Socializing gehört nicht dazu.
Spannender sind da Plattformen, die extra für diesen Zweck gebaut wurden. Sie funktionieren alle ähnlich: Avatare, also kleine digitale Ichs, können sich mehr oder weniger frei in einem Raum bewegen.
Der große Vorteil besteht darin, dass die Teilnehmer*innen mühelos zueinander finden und sich voneinander trennen können. Damit kommen Treffen dieser Art der realen Begegnung ziemlich nahe.
Nähern sich zwei oder mehr Avatare, zum Beispiel an einem virtuellen Tisch, startet automatisch eine spontane Videokonferenz. Was dort besprochen wird, bleibt für die anderen unsichtbar. Solche Tools sind zum Beispiel Cosmos, HyHyve, Workadventure oder Gather Town.
Zwei Dinge haben wir zwischenzeitlich gelernt:
Um digital Socializing erfolgreich zu betreiben, müssen sich erstens wenige Menschen real sehen.
Und zweitens brauchen diese Prozesse Zeit. Mindestens genauso viel Zeit wie analoger Vertrauensaufbau.
Für Beteiligungsprozesse heißt das: Sie müssen eingeplant werden. Zu Beginn und auch im Prozess immer wieder. Vor allem dann, wenn Konflikte eine Rolle spielen oder spielen könnten.
Ohne diese investierte Zeit ist die Chance groß, dass es nicht funktioniert.
Deshalb sind hybride Prozesse so empfehlenswert, weil sie digitale und analoge Formate kombinieren und beide ihre Stärken ausspielen können.
Wo das nicht geht und nur der digitale Raum zur Verfügung steht, bleibt uns nur, das digital Socializing als ernsthaften, zentralen eigenständigen Prozessauftrag zu definieren und zu behandeln.
Kreative Lösungen sind dann auch hier, wie immer in der Beteiligung, möglich.
Erst vor wenigen Wochen durfte ich für einen Jugendverband einen Workshop zu Co-Creation begleiten. Es waren 14 Teilnehmende, das Socializing klappte prima.
Wir trafen uns in einem ganz besonderen digitalen Raum: Auf Fortnite, der wohl bekanntesten Survival-Shooter-Plattform im Netz.
Es hat nicht nur funktioniert, sondern es war ein ganz außergewöhnlicher Spaß.
Mit Zeit, Kreativität und den richtigen Tools kann digital Socializing also funktionieren. Das ist eine gute Nachricht, denn eines ist abzusehen:
Wir werden es in Zukunft noch weitaus öfter brauchen.