#182 | Der Tod von Stephen King

Warum lassen sich manchmal nur wenige Menschen für Beteiligung gewinnen? Wer die Antwort sucht, sollte sich anschauen, warum Stephen King überfahren wurde.

Ausgabe #182 | 29. Juni 2023

Der Tod von Stephen King

Der Tag, an dem Stephen King um sein Leben kämpfte, hätte direkt aus einem seiner Romane stammen können.

Nur einen kleinen Spaziergang plante der zeitweise erfolgreichste Schriftsteller der Gegenwart in jenem Juni 1999.

Er endete mit einem zerschmetterten Bein, einer ruinierten Hüfte, einem mehrfach angebrochenen Rückgrat und einer kollabierten Lunge.

Einer seiner Ärzte bezeichnete es später als ein Wunder, dass King diesen Tag überlebte.

Der Mann, der King überfuhr, dachte zunächst, er hätte ein Reh erwischt. Bis er die blutverschmierte Brille sah, die auf seinem Sitz gelandet war.

Rehe tragen normalerweise keine Brillen, dachte Bryan Smith. Und dann realisierte er, dass er soeben einen Menschen überfahren hatte.

Er hatte King nicht gesehen, weil er sich in seinem Van nach hinten gebeugt hatte, um einen seiner Rottweiler davon abzuhalten, Fleisch aus einer Kühlbox zu mopsen.

Später stellte sich heraus, dass sich dieses Gerangel schon zuvor über Kilometer hinweg zog. Er war die ganze Zeit Schlangenlinien gefahren.

Noch verrückter ist der Grund, aus dem Smith in seinem Van unterwegs war: Er hatte in dem Wohnwagen, in dem er lebte, plötzlich Lust auf einen Mars-Riegel bekommen. Also beschloss er, viele Kilometer zu fahren – nur für einen Schokoriegel.

Am Ende überlebte Stephen King diese Story, die er sich kaum hätte ausdenken können (später aber in mehreren Romanen verarbeitet hat). Er brauchte Jahre, um halbwegs zu genesen.

Ob sein Tod eines Tages ähnlich dramatisch verlaufen wird, wie sein Beinahe-Tod im Juni 1999, wissen wir nicht. Wir wünschen ihm, dass er noch viele Jahre entfernt ist.

Der Unfallverursacher Bryan Smith starb übrigens ein Jahr später an einer Überdosis Schmerzmittel. Seine Leiche wurde exakt an Stephen Kings 53. Geburtstag entdeckt.

Was bleibt von der Geschichte? Unter anderem die Erkenntnis, dass Menschen bereit sind, stundenlang im Auto herumzukurven, weil sie einen Schokoriegel wollen.

Das mit dem Wollen ist so eine Sache. Die Menschen wollen auch mehr Bürgerbeteiligung. Hört man immer wieder. Auch von mir. Und dann gibt es Erfahrungen wie diese, alle innerhalb von nur drei Tagen:

Zunächst ein Anruf einer Beteiligungsbeauftragten einer norddeutschen Stadt mit rund 50.000 Einwohner*innen. Man habe erstmals ein Bürgerbudget aufgelegt, aber der Gemeinderat sei mit der Zahl der teilnehmenden Bürger*innen unzufrieden. Man wolle das Projekt wieder einstampfen. Wie viele Beteiligte waren es denn, fragte ich.

Elf.

Am selben Morgen las ich in der Zeitung, dass diesmal eine süddeutsche Stadt, immerhin über 150.000 Einwohner*innen, zu einem ersten Bürgerdialog eingeladen hatte. 100 Teilnehmende waren geplant. Tausende wurden ausgelost und angeschrieben. Aber kaum jemand hatte Lust. Dann sollten die Plätze frei an alle Interessierten vergeben werden. Auch das führte nicht zu genügend Beteiligten. Nun wird der Dialog erstmal verschoben.

In derselben Zeitungsausgabe wurde über die Bürgermeisterwahl in einem Nachbarort berichtet. Drei Kandidaten standen zur Auswahl. Die Wahlbeteiligung betrug gerade mal 27 Prozent.

Ist es also gar nicht so weit her mit dem Interesse an Beteiligung und aktiver Mitgestaltung?

Haben die Bürger*innen keinen Bock auf Demokratie?

Zumindest haben viele zu wenig Motivation.

Das ist nicht schön, aber es ist nachvollziehbar.

Bei der Bürgermeisterwahl traten zwei Unbekannte gegen den hoch beliebten Amtsinhaber an – der dann auch 96 Prozent der Stimmen bekam. Dass er wiedergewählt würde, war vorher allen klar.

Das Bürgerbudget wurde kaum beworben und verfügte nur über ein paar Tausend Euro. Vor allem aber musste man sich vorher online aufwändig registrieren und identifizieren. Und dann Wochen auf den Freischaltcode warten.

Und der „Bürgerdialog“ hatte offiziell vor allem die Aufgabe, den Dialog „zwischen den Bürger*innen“ zu fördern. Wirkung stand nicht ernsthaft im Raum, nicht einmal Dialog zwischen Beteiligten und Entscheider*innen.

Und genau das ist die Herausforderung: die Frage der Motivation. Wenn die stimmt, nehmen viele Menschen große Anstrengungen in Kauf.

Nur muss die Anstrengung in irgendeiner Weise mit dem in Aussicht gestellten Ziel korrespondieren. Das ist natürlich immer subjektiv.

Nicht jede*r würde für einen Schokoriegel zig Kilometer fahren. Aber niemand würde die Strecke fahren, wenn es gar nichts zu holen gäbe.

Tatsächlich werden noch immer zu viele Beteiligungsangebote kreiert, bei denen viel über die Ziele der Beteiligenden (Verwaltung, Politik, Unternehmen) nachgedacht wird. Und zu wenig über die Motivation jener, die sich beteiligen sollen.

Beteiligungsangebote brauchen einen klaren Wirkungshorizont. Und der muss mit dem Aufwand für die Beteiligten abgeglichen werden.

Ein komplexer Prozess über Wochen hinweg, verbunden mit der Offenlegung persönlicher Daten, nur um ein paar Hundert Euro zwischen Vereinen zu verteilen, die man nicht kennt? Uninteressant.

Ein aufwändiges Zufallsverfahren, nur um mit anderen Menschen ohne Entscheidungsbefugnis darüber zu reden, wie ein neues „Wir-Gefühl“ entstehen kann? Spricht nicht mal 0,1 Prozent der Menschen an.

Für die meisten Menschen gilt: Wirkungslose Beteiligung ist wertlose Beteiligung. Und Wirkung ist in jedem Fall jene, die man in dem Moment erwartet, in dem man die Entscheidung für eine Teilnahme trifft.

Deshalb gilt für die Planung jedes Beteiligungsangebotes – vom mehrjährigen Prozess bis zum Stuhlkreis mit dem Bürgermeister:
Zunächst muss die Schokoriegel-Frage gestellt werden. Immer. Spätestens nach der Frage „warum wollen wir Menschen beteiligen?“ muss die Frage Schokoriegel-Frage beantwortet werden:

„Warum sollen sich Menschen beteiligen wollen?“

Die Antwort muss nicht nur überzeugend sein, sie muss auch kommuniziert werden. Immer.

Und sie muss den Aufwand rechtfertigen. Jenen der Organisator*innen, vor allem aber jenen der Teilnehmenden.

Beteiligung ist kein Selbstzweck, höre ich immer wieder von Kommunalpolitiker*innen. Das stimmt. Es gilt aber eben auch für die Menschen, die beteiligt werden sollen.

Das richtige Thema alleine genügt nicht. Es braucht auch erkennbare Wirkung. Gibt es die, sind viele Menschen durchaus bereit, ernsthaft mitzuwirken. Wir haben ja gesehen:

Stimmt die Motivation, ist kein Weg zu weit.

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4 Kommentare
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Wolfgang
29. Juni 2023 15:36

Coole Schokoriegelstory Jörg! Am Ende vielleicht für heutige Schnell- und Wenigleser ein bisserl zu lang … bei der Moral von der G’schicht—reicht das Zuckerl? Mitgestaltung und Co-Kreation, wie ein Kollege dies vollbusig, ja quasi-göttlich rahmt. Müssen wir das Thema nicht intellektuell couragiert neu denken, um den Klimmzug auf die nächste Ebene zu schaffen? Mal ganz schräg: Was daechte eine außerirdische Intelligenz darueber? Schon die Indigenen hätten, hätten sie Europa erobert, und nicht umgkehrt, das Kruzifix als aberglaeubig verbrannt und den Sonnenkult eingeführt, schreibt der frz. Bestseller “Civilisations”. Sorry, jetzt konnte ich die Tinte nicht halten—freue mich auf weitere Narrative und Gruesse aus 5 Grad Nord.

Martin Müller Lebenswerke GmbH
5. Juli 2023 15:54

Hallo Jörg, ja das mit der Motivation stimmt definitiv. Dazu gehört die adäquate Ansprache auf drei Ebenen: Die fachliche, sachliche und vor allem die emotionale. So wir das schaffen und dabei die jeweiligen Erwartungen der Beteiligten zu fixieren wissen, von vornherein und dann noch die sicherlich oft unterschiedlich immer wieder zu pflegende Kommunikation stets am Leben halten…, kann’s was werden. Ja, ich mag diese Arbeit sehr.
Liebe Grüße von Martin Müller aus Stuttgart.
…vielen Dank für Deine tollen Impulse, immer wieder.

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