Ausgabe #183 | 6. Juli 2023
Die Rüge
Julia Willie Hamburg hat kein Auto. Die bekennende Radfahrerin setzt sich seit vielen Jahren für die Mobilitätswende ein. Sie engagiert sich bei den Grünen.
2013 zog sie als damals jüngste Abgeordnete in den Landtag von Niedersachsen ein.
Doch dann erkrankte sie nach der Geburt ihres zweiten Kindes schwer. So schwer, dass sie ihr Landtagsmandat eigentlich nicht ausüben konnte.
Das war brisant.
Denn im Landtag hatte die rot-grüne Koalition nur eine Stimme mehr als die schwarz-gelbe Opposition.
Es hätten also turbulente Zeiten werden können – mit einer Landesregierung, der plötzlich im Parlament die Mehrheit fehlte.
Dass wir in den Medien nichts über eine Regierungskrise in Niedersachsen lesen konnten, hatte einen einfachen Grund:
Während der Dauer ihrer Erkrankung nahm konsequent jeweils ein Mitglied der oppositionellen FDP nicht an den Abstimmungen teil.
Dieses Verfahren ist weitgehend unbekannt, in deutschen Parlamenten aber durchaus üblich. Es gibt sogar einen Namen dafür: Pairing-Abkommen.
Sie sehen vor, dass für jeden kranken, beruflich oder sonst dringend verhinderten Abgeordneten der Regierungsseite ein Abgeordneter der Opposition der Abstimmung im Parlament fernbleibt.
Sie werden meist formell vereinbart – und in seltenen Fällen auch wieder gekündigt, wenn die Opposition sich ernsthaft missachtet wähnt.
Sie zeigen vor allem aber eines: Auch bei noch so kantigen politischen Auseinandersetzungen kann man gemeinsame Fairness-Regeln finden. Wenn man will.
Für Julia Willie Hamburg ging die Geschichte gut aus. Ab Juli 2014 konnte sie ihr Landtagsmandat wieder ausüben, wurde 2017 wiedergewählt und gewann 2021 sogar erstmals das Direktmandat in ihrem Wahlkreis.
2022 wurde sie stellvertretende Ministerpräsidentin der aktuellen niedersächsischen Landesregierung.
Und da das Land Niedersachsen Anteilseigner der Volkswagen AG ist, entsandte man sie in den dortigen Aufsichtsrat.
Unmittelbar nach Bekanntwerden der Personalie drehte die Auto-Lobby durch.
Die CDU tobte, die Deutsche Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz wollte gar dagegen klagen. Und das bekannte und beliebte deutsche Boulevard-Magazin BILD machte sich, wieder einmal, zur Speerspitze des Grünen-Bashings.
Eine ganze Reihe von Artikeln versuchte, sie als Person zu demontieren, wühlte in ihrem Lebenslauf (pfui: kein Berufsabschluss!) und titelte u. a. „Grüne Autohasserin kontrolliert jetzt VW“.
Das führte zu unsäglichen Drohungen, Beschimpfungen und öffentlichen Herabwürdigungen in den Sozialen Medien.
Die BILD fing sich für ihre Berichterstattung eine öffentliche Rüge ein. Wegen mangelnder Sorgfaltspflicht und ehrverletzender Berichterstattung.
Ausgesprochen hat diese Rüge der Deutsche Presserat.
Und ja. Der darf das.
Das ist sogar seine Aufgabe. Getragen wird er von der deutschen Pressebranche.
Er hat einen Pressekodex formuliert. Verstöße dagegen kann jede*r zur Anzeige bringen. Der Rat prüft und erteilt einen Hinweis, eine Missbilligung und im schlimmsten Fall eine öffentliche Rüge.
Wie im Fall Hamburg. Also der Person Julia Willie Hamburg.
Es könnte aber auch Hamburg treffen. Also die Stadt.
Und jetzt wird es kurios.
Es gibt nämlich nicht nur den Deutschen Presserat (für die Presse), sondern auch den Deutschen Rat für Public Relations (DRPR).
Funktioniert im Prinzip genauso, nur eben für die PR-Branche. Auch er hat Regeln und Richtlinien, auch er kann Rügen aussprechen.
Soweit alles gut.
Nun ist aber dieser PR-Rat auf die Idee gekommen, auch eine Richtlinie für „Bürgerbeteiligung und Kommunikation“ zu entwickeln.
Die hat mit den Grundsätzen Guter Beteiligung, wie sie die Beteiligungsbranche entwickelt hat, nichts zu tun.
Sie ist auch nicht unter Beteiligung der Beteiligungsbranche entstanden.
Die ist nicht einmal konsultiert worden.
Diese beteiligungsfreie Beteiligungsrichtlinie ist jetzt nicht völlig misslungen. Solide ist sie aber auch nicht.
Teilweise bleibt sie weit hinter der Praxis zurück. Teilweise regelt sie Dinge, die in der Praxis gar kein Thema sind.
Das könnte man freundlich weglächeln, es entwickeln ja auch Unternehmen und sogar Ministerien eigene und manchmal sogar eigenartige Grundsätze, Regeln oder Richtlinien. Dazu kommen die vielen kommunalen Leitlinien.
Wo immer also eine Institution oder Körperschaft für sich verbindliche Regeln aufstellen möchte, ist das in Ordnung.
Problematisch wird es dann, wenn diese Richtlinien anderen übergestülpt werden sollen. Wenn kommerzielle PR-Agenturen dies für Kommunen und gemeinnützige Institutionen tun, wird es skurril.
Und wenn sich auf dieser Grundlage dann die PR-Branche dazu ermächtigt, fremden öffentlichen Beteiligungsträgern „Rügen“ zu erteilen, dann ist da irgendwo irgendwas gründlich schiefgelaufen. Noch hat es keine Rüge gegeben.
Aber eines Tages könnte es Hamburg treffen. Das richtige Hamburg.
Oder jede andere Kommune.
Dass es so weit kommen konnte, hängt natürlich vor allem damit zusammen, dass die Beteiligungslandschaft in Deutschland noch recht jung ist.
Es gibt eben keinen „Deutschen Rat für Beteiligung“.
Weil es keine Verbände gibt, die ihn ins Leben rufen könnten.
Der Presserat wird von Verleger- und Berufsverbänden der Journalist*innen getragen. Die Beteiligungsbranche hat beides nicht.
Dort gibt es bislang nur lose Netzwerke. Keines davon mit einer rechtlichen Struktur.
Das führt dann dazu, dass die merkwürdigsten Akteur*innen entscheiden, wer gut und wer schlecht beteiligt hat.
Vielleicht sollten wir das ändern?
Schreiben Sie mir, was Sie dazu meinen.
Alles gut, so wie es ist? Oder braucht es früher oder später doch eine Interessenvertretung der Beteiligungsprofis?
Eine spannende Frage …
…wir brauchen dringend eine Interessenvertretung der Beteiligungsprofis – bei uns in Wetzlar entscheidet der Oberbürgermeister als Akteur selbst dass er (angeblich) gut „beteiligt“ hat. Dabei macht er laufend eine Pseudo-Beteiligung. Meist nur um Fördermittel einzustreichen bei denen eine Beteiligung vorgeschrieben ist. Sein feudalherrliches Vorgehen ist so durchschaubar und er zieht eine Spur von Pseudobeteiligung hinter sich her, leider fallen immer wieder Bürger darauf rein. Wer einmal mitgemacht hat fühlt sich verschaukelt, schreibt einen Leserbrief und resigniert politisch. Die Opposition muckt gelegentlich auf, wird aber von diesem Oberbürgermeister mit irgendwelchen „Pöstchen“ in städt. Gesellschaften ruhiggestellt. Es ist ein Skandal wie hier in Wetzlar mit Bürgern umgegangen wird.
Ich kann das aus der Distanz natürlich nicht wirklich beurteilen, aber vielleicht wäre es einmal Zeit für eine seriöse externe Evaluation?
Absolut! Eine Interessenvertretung der Beteiligungsprofis ist mehr als überfällig. Wo udn wie kann ich mitmachen? Anne Dussmann
Lieber Herr Sommer, ich lese Ihren Newsletter seit einigen Monaten mit großer Begeisterung. Vielen Dank! Ihre Idee, einen Verband der Beteiligungsmacher ins Leben zu rufen, kann ich nur begrüßen. Ich wäre gerne dabei! Gibt es schon konkretere Pläne?
Hinweise für gute, im Sinne „von Betroffenen zu Beteiligten machen“ Beteiligung, sind da. Meist von Moderatoren die davon abhängen das das, was sie machen im Nachhinein auch funktioniert. Beteiligung wird eben sehr unterschiedliceh gesehen. Interessenvertretung: Na-Ja gibt es nicht schon genug Pöstchen für „Willi Wichtigs“.
Lieber Herr Sommer,
zunächst Danke ich Ihnen für Ihr wertvolles Engagement für gute Beteiligung und Ihren spannende Newsletter, den ich gerne lese. Wir haben etwas gemeinsam: Wir engagieren uns für eine gute Praxis im weiten Feld der Beteiligung. Wir schauen aus unterschiedlichen Perspektiven auf das Feld. Meine ist die der Wissenschaft und meines ehrenamtlichen Engagements im Kommunikationsberufsfeld. Naturgemäß sehen Dinge aus unterschiedlichen Perspektiven manchmal verschieden aus. So erklären sich vielleicht auch unsere verschiedenen Blickwinkel, was die neue Richtlinie des Deutschen Rates für Public Relations (DRPR) angeht.
Ich war sehr dankbar, in Ihrem ‚Kursbuch Beteiligung #5‘ die Richtlinie des DRPR zu Partizipation in der Organisationskommunikation mit dem Titel „Bürgerbeteiligung und Kommunikation“ vorstellen zu können. Als Autor des Aufsatzes in Ihrem Buch und als einer der Kern-Autoren der Richtlinie ist mir wichtig, meine Perspektive zu schildern, die sich bei folgenden Aussagen aus Ihrem letzten Newsletter etwas von Ihrer unterscheidet:
Sie schreiben:
„Die hat mit den Grundsätzen Guter Beteiligung, wie sie die Beteiligungsbranche entwickelt hat, nichts zu tun.“
Doch, das hat sie. Sie baut inhaltlich auf 65 Beteiligungsrichtlinien aus Kommunen sowie von zivilgesellschaftlichen Akteuren auf. Darunter die Leitlinien der Allianz für Bürgerbeteiligung, der Allianz Vielfältige Demokratie, dem Beteiligungsportal Baden-Württemberg, der Mediationsallianz Baden-Württemberg, dem Netzwerk Bürgerbeteiligung und der VDI Richtlinie 7001. Aus dezidiert PR-ethischer Perspektive wurden die Regelungskriterien betrachtet und es wurde abgewogen, inwiefern sie gültig sein können für Beteiligungsverfahren im Rahmen der Organisations- und Unternehmenskommunikation.
„Sie ist auch nicht unter Beteiligung der Beteiligungsbranche entstanden. Die ist nicht einmal konsultiert worden.“
Nun ist Definitionsfrage, wer ‚die Beteiligungsbranche‘ ist. Ich würde darunter u.a. Agenturen verstehen, die Beteiligungsverfahren umsetzen. Aber auch Vertreter*innen von Unternehmen, die solche Verfahren beauftragen oder selber organisieren. Und diese Akteure waren in einem eigenen Beteiligungsverfahren einbezogen. Auch Vertreter*innen der Zivilgesellschaft waren beteiligt. Es gab ein öffentliches Hearing, bei dem Hinweise zur Ausgestaltung der Richtlinie abgegeben werden konnten. Über die Beteiligung ist bei der öffentlichen Präsentation der Richtlinie Bericht erstattet worden. Das Hearing ist bis heute bei YouTube auf dem Kanal des DRPR abrufbar (https://www.youtube.com/watch?v=ianKGVTGH14). Insofern hat eindeutig Beteiligung stattgefunden. Die Regelungskriterien der zivilgesellschaftlichen Akteure waren überdies bereits durch die genannte Studie umfassend berücksichtigt.
„Problematisch wird es dann, wenn diese Richtlinien anderen übergestülpt werden sollen.“
Einspruch, euer Ehren. Mit der Richtlinie regelt das Kommunikationsberufsfeld Kriterien einer guten Praxis von freiwilligen Beteiligungsverfahren im Kontext der Organisations- bzw. Unternehmenskommunikation. Getragen wird der Rat nämlich durch die Berufsverbände und den Agenturverband professioneller Kommunikator*innen. Insofern „stülpt“ sich das Berufsfels höchstens selber Regeln über. Und das ist sein gutes Recht – und sicher auch seine moralische Pflicht, will es eine gute Praxis sichern.
Das Schöne ist: Da sind wir beiden am Ende auch wieder ganz nah beieinander.
Herzliche Grüße
Felix Krebber
P.S.: Wer nochmals nachlesen mag:
Die PR-ethische Diskussion sowie die Befunde der Inhaltsanalyse von Beteiligungs-Leitlinien findet sich hier:
KREBBER, F., RADEMACHER, L. (2023). Beteiligungsverfahren als Instrument strategischer Kommunikation: Ein Entwurf zur normativen Grenzsetzung auf Basis einer inhaltsanalytischen Untersuchung von Ethik- und Beteiligungsrichtlinien. In T. Koch, J. Beckert, B. Viererbl & N. Denner (Hrsg.), Grenzen, Entgrenzung und Grenzüberschreitungen der Public Relations und Organisationskommunikation (S. 265-288). Wiesbaden: Springer VS.
Die Genese der Richtlinie wird hier umfassend geschildert:
KREBBER, F. (2023). Beteiligung vor Missbrauch schützen: Konzeptionelle Grundlage und Konsequenzen für die Praxis der neuen PR-Ethik-Richtlinie ‚Bürgerbeteiligung und Kommunikation‘. In J. Sommer (Hrsg.), Kursbuch Bürgerbeteiligung #5 (S. 88-105). Berlin: Republik Verlag.
https://www.bipar.de/beteiligung-vor-missbrauch-schuetzen/
Lieber Herr Krebber,
vielen Dank für Ihren Kommentar und übrigens auch für Ihren Beitrag im KURSBUCH BÜRGERBETEILIGUNG , der den Deutschen Rat für Public Relations (DRPR) und seine „Richtline“ ja erst in der Beteiligungsszene zum Thema gemacht hat.
Ich begrüße es sehr, dass sich die PR-Branche einen eigenen Verhaltenscodex für Akzeptanzkommunikation gegeben hat.
Sie schreiben, dass Sie sich für Ihr Vorhaben bei diversen Quellen bedient und sich herausgesucht was aus Ihrer (zweifellos begründeten) Sicht für Sie funktioniert.
Das kann man tun.
Das passiert auch immer wieder vereinzelt in Kommunen, wenn Leitlinien anderer Kommunen abgeschrieben oder wie in diesem Fall ein bunter Mix aus Auszügen daraus zusammenggestellt wird.
Das Ergebnis kann funktionieren, ist aber auf eine Art und Weise zustande gekommen, die eben mit genau jenen erwähnten Grundsätzen nicht wirklich viel zu tun hat.
Diese sind natürlich sehr divers. Inhaltlich, aber auch in ihrer Relevanz. Am prägendsten für die alltägliche öffentliche Beteiligungspraxis sind allerdings weder Mediatoren-Konzepte (Mediation ist etwas anderes als Beteiligung) noch Normen eines Ingenieurverbandes, sondern neben regionalen Rahmensetzungen bundesweit die „10 Grundsätze Guter Beteiligung“ der Allianz Vielfältige Demokratie, in der über 250 Beteiligungsexpert*innen aus über 150 Organisationen, Hochschulen, Verwaltungen und Organisationen mitarbeiten. Das ist, mit Verlaub, schon ein anderes Niveau.
Wenn man sich diese Grundsätze einmal anschaut, dann sieht man rasch, dass Ihre „Richtlinien“ (schon ein starker Begriff) in der Entstehung weitgehend ohne Beachtung dieser Prinzipien (die sich so ähnlich auch in dem meisten Kopien und Alternativen wiederfinden) entstanden sind.
Denn die nun möglicherweise davon Betroffenen wurden im Entwicklungsprozess eben nicht beteiligt.
Wen Sie beteiligt haben, dass ist die PR-Branche. Damit wäre es auch gut, wenn diese Richtlinie (https://drpr-online.de/wp-content/uploads/2022/12/DRPR_Richtlinie_Buergerbeteiligung-und-Kommunikation.pdf) nur für diese Branche relevant wären.
Wäre das so, hätte man sie auch eher „Richtlinie für Akzeptanzkommunikation“ nennen sollen. Mit dem Titel „Richtlinie BÜRGERBETEILIGUNG und Kommunikation“ formulieren Sie leider Zuständigkeitsansprüche, die die Frage aufwerfen, ob diese Ihrem Mandat und der Auswahl der an der Entstehung Mitwirkenden entsprechen.
Nach der Lektüre der Richtlinien, der Geschichte des Entstehungsprozesses, der diversen begleitenden Äußerungen und Ihrer Webseite entstand aber bei zahlreichen Akteuren der Beteiligung der Eindruck, dass Sie eben nicht nur „Ihre“ PR-Agenturen zu prüfen und ggf. zu „rügen“ beabsichtigen, sondern anhand ihrer Richtlinien auch die Arbeit von z.B. Kommunen und anderer öffentlicher Institutionen prüfen und beurteilen wollen.
Aber vielleicht haben wir uns nur missverstanden?
Das ließe sich rasch aufklären: Können Sie verbindlich erklären, dass der DRPR nicht beabsichtigt, anhand seiner individuellen Richtlinien die Bürgerbeteiligung und die sie organisierenden Institutionen zu bewerten und Sie deren Verbindlichkeit nur an für die von Ihnen vertretene PR-Branche reklamieren?
Herzlichst, Jörg Sommer
Ein Faktenfehler:
Der Landesregierung hätte keine Mehrheit gefehlt. Wenn allerdings eine Abgeordnete trotz fortgesetzter Erkrankung so an ihrem Stuhl klebt, dass sie lieber die Regierung kriseln lässt, als Platz für ihren Nachfolger zu machen, sagt es doch eigentlich alles über diese Abgeordnete aus.
Liebe Frau Gabelmann,
tatsächlich hatte in der besagten Legislaturperiode (2013-2017) die Regierungskoalition 69 Abgeordnete im Landtag, die Opposition 68. Die Angaben im Newsletter sind schon korrekt.
Ich teile auch nicht Ihre Kritik an der Abgeordneten Julia Willie Hamburg. Sie erkrankte an einer peripartalen Herzschwäche (PPCM), ging sehr offen damit um und hat sich mühsam wieder zurückgekämpft. Sie war eine gewählte Abgeordnete, vom Wahlvolk mit einem vierjährigen Mandat beauftragt. Es kommt ja auch kein Arbeitgeber auf die Idee, von einem erkrankten Arbeitnehmer zu verlangen, er solle gefälligst kündigen.
Ich plädiere dafür, mit erkrankten Menschen etwas solidarischer umzugehen, auch und gerade dann, wenn wir eine andere Meinung haben.
Lieber Herr Sommer,
herzlichen Dank für Ihre Antwort! Zur Präzisierung: Faktenfehler bezog sich nicht auf die reinen Zahlen, sondern darauf, es so darzustellen, als wäre die Koalition durch die Erkrankung handlungsunfähig gewesen (oder drohte es zu werden). Daraus muss für den nicht mit den Formalia vertrauten Leser der Eindruck entstehen, kranke Abgeordnete könnten nicht „ersetzt“ oder nachbesetzt werden. Dieses Setting entstand aber erst durch den unbedingten Willen der Betreffenden, eine ernste Erkrankung plus Mandat durchziehen zu wollen. Dann wiederum müssen natürlich alle mit den Konsequenzen (Mehrheitsverlust) leben.
Erstaunlicherweise hat sie sehr wohl eingesehen, dass sie ihren Job mit Krankheit nicht so ausfüllen kann wie gewünscht – nur halt beim schlechter bezahlten Amt der Landesvorsitzenden. (Hab das mal mit den verfügbaren Zahlen von 2023 durchgetippt: Sie hat eben – Sie erwähnten ja bereits in Ihrem Text das abgebrochene Philosophiestudium – als Mutter von zwei Kindern den Job behalten wollen, der monatlich 1.800 Euro mehr brachte. Völlig verständlich. Aber auch hier: Dann muss man mit den Konsequenzen – Mehrheitsverlust! – leben.)
Nachrücker sind im Parlament nichts Ungewöhnliches. Ungewöhnlich ist eher, wenn man eben keinen Platz dafür machen will. Auf Kommunalebene sieht der Stadtrat/Kreistag am Ende der Legislatur häufig deutlich anders aus als zu Beginn. Das sind übrigens tatsächlich direkt vom Wähler Beauftragte, die Abgeordnete Hamburg zog nur über Landesliste ein. Gewählte Abgeordnete sind eben keine normalen Arbeitnehmer, bei denen der Arbeitgeber dann einfach nur die Arbeit umverteilen muss, wenn dieser ausfällt. (Übrigens listet die Website des niedersächsischen Landtages allein für die laufende Wahlperiode vier Nachrücker auf, davon drei von den Grünen. Es scheint also, dass Frau Hamburg doch besonders zäh klebte und damit die – zu Recht kritisierte – Ausnahme war.)
Wenn die niedersächsischen Abgeordneten einen ähnlichen Eid schwören wie die Landesregierung, dann lautet die Formel etwa: „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Volke und dem Lande widmen, […], meine Pflichten gewissenhaft erfüllen […] werde.“ Man soll seine Kraft also dem Volke widmen und seine Pflichten gewissenhaft erfüllen. Und wenn man das geschworen hat (und ich persönlich nehme diese Eide sehr sehr ernst), dann muss man sich selbst (und in der Folge dann auch dem Wähler) gegenüber ehrlich sein, wenn man das nicht oder nicht mehr kann. Die Frau hatte eine lebensgefährliche Erkrankung, keinen Beinbruch. Sie hat nicht wissen können, wie lange sie ausfällt oder ob sie überhaupt in der Lage sein würde, wiederzukommen. In dieser Situation hat sie aber nicht an ihren Eid gedacht und sich selber gegenüber eingestanden, dass sie diesen nicht halten kann. Im Gegenteil: Sie hat durch ihr Verhalten erst dafür gesorgt, dass die Regierung wackelt (wenn nämlich die FDP diesen Deal nicht eingegangen wäre) und dass die Regierung überhaupt auf einen solchen Deal angewiesen ist.
Das ist weder verantwortungsvoll noch pflichtbewusst. Und genau das (und ausschließlich das) kritisiere ich.
Ich habe übrigens keine andere Meinung als Frau Hamburg, sondern eine andere Meinung über Frau Hamburg. Diese hat sich übrigens erst durch Ihren Newsletter und die rührselige Geschichte gebildet. Vorher kannte ich die Dame gar nicht. Mir kam aber diese Darstellung doch so abwegig vor, dass ich dem nachgegangen bin und sich nun, nach Recherche der Fakten, ein deutlich anderes Bild bietet. Ich bin selbstverständlich solidarisch mit einem erkrankten Menschen. Aber hier geht es ja um ihre Entscheidungen, nicht um ihre Krankheit.
Ich hoffe, den Standpunkt jetzt etwas klarer und zumindest von den Eckpunkten her nachvollziehbar formuliert zu haben.
Beste Grüße
UEG
Liebe Frau Gabelmann, ohne verkleistern zu wollen, dass wir beide eben einfach unterschiedliche Ansichten dazu haben, ob einer Abgeordneten dieselben Grundrechte zustehen wie einer normalen Arbeitnehmerin, die auch bei Krankheit nicht zur Kündigung gezwungen werden kann, spekulieren Sie erneut und fällen auf Grundlage dieser Spekulationen ein Urteil.
Nicht, dass ich mich nicht auch schon oft geirrt hätte, aber: Die Fakten im angesprochenen Text sind genau so korrekt. Ohne die eine Stimme Mehrheit wären eben Mehrheitsentscheidungen der Regierungsfraktionen nicht mehr möglich gewesen. Deshalb wurde das Pairing-Abkommen mit der FDP geschlossen. Das ist in deutschen Parlamenten üblich, aber immer Verhandlungssache. Julia Hamburg bekam so die Chance, sich auf Ihre Gesundung zu konzentrieren, was dann ja auch funktioniert hat.
Ob sie ohne Pairing-Abkommen ihr Mandat niedergelegt hätte? Da könnte man nur spekulieren. Eine Niederlegung des Mandats ist in Parlamenten dann üblich (aber aus historischer Erfahrung nicht zwingend), wenn abzusehen ist, dass der oder die Abgeordnete das Mandat bis zum Ende der Legislaturperiode nicht mehr umfassend ausüben kann. Das war übrigens der Grund bei den von Ihnen erwähnten vier aktuellen Fällen. Bei Julia Hamburg haben wir ja gesehen, dass es nicht so war. Welche Heilungsprognose sie wann im Verlauf ihrer Krankheit hatte und ob und wann Lebensgefahr vorlag, weiß ich nicht. Sie wissen das aber auch nicht.
Der ganze Vorgang ist doch eigentlich ein schöner Beleg dafür, dass man über politische Differenzen hinweg auch in Parlamenten fair miteinander umgehen kann.
Wir sollten das anerkennen, statt ausgerechnet die Erkrankte an den Pranger zu stellen.
Hier ein Hintergrundbericht dazu: https://www.weser-kurier.de/niedersachsen/ex-gruenen-chefin-zurueck-in-politik-doc7e3miyk79ew1gzp3j5i4
Es war wohl eine Erkrankungen nach der Geburt ihres Kindes. Aber nach der Logik von Ute Elisabeth Gabelmann sollte Abgeordnete ja auch keine Kinder kriegen oder Angehörige pflegen. Oder gar nicht erst kandidieren?