Ausgabe #198 | 19. Oktober 2023
Die Fantastischen Fünf
Über das Scheitern haben wir in der vergangenen Woche gesprochen.
Es ist wichtig, wie wir mit Beteiligungsprozessen umgehen, die nicht oder anders als erwartet funktioniert haben.
Denn es gibt keine Allgemeinrezepte. Und für uns alle noch viel zu lernen.
Lernen können wir aber auch vom Gegenteil: Von Beteiligung, die andere organisiert haben.
Gut organisiert.
Zum Beispiel in der kleinen süddeutschen Gemeinde Bischweier.
Knapp über 3.000 Menschen wohnen in der Kommune nahe der französischen Grenze.
Dort stand eine Gewerbeansiedlung an. Die Mercedes-Benz AG plante eine Niederlassung zur Vormontage für ihr Rastatter Werk.
In Bischweier wurden zwei Formate kombiniert.
In einem Bürgerrat erarbeiteten 34 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger eine Einschätzung zu den Auswirkungen auf Gemeinde, Region und Umwelt.
Sie erstellten ein Bürgergutachten, das an den Bürgermeister und den Gemeinderat übergeben und bei einer Bürgerinformationsveranstaltung der Öffentlichkeit vorgestellt wurde.
Die Planungen wurden daraufhin angepasst und verbessert. Im Januar 2023 fand dann ein Bürgerentscheid zur Frage statt, ob die Gemeinde ein Verfahren für einen vorhabenbezogenen Bebauungsplan einleiten soll.
Mit rund 76 Prozent stimmten die Bürgerinnen und Bürger für das Vorhaben. Die Wahlbeteiligung lag bei knapp 48 Prozent und damit höher als bei vielen Kommunalwahlen. Damit ist das Resultat bindend.
Tatsächlich lag die Kommune mit der Kombination aus dialogischem Bürgerrat und direktdemokratischem Bürgerentscheid sehr viel näher am ursprünglich aus Irland zu uns gekommenen Bürgerratskonzept als zum Beispiel der aktuelle Bürgerrat des Deutschen Bundestags.
Auch in Irland haben die dortigen Citizen Assemblys keine Beratung fürs Parlament geleistet, sondern direktdemokratische Volksabstimmungen vorbereitet.
Auch etwas weiter südlich in der Region Freiburg wurde ein Bürgerrat organisiert.
Es war der erste interkommunale Klimabürgerrat Deutschlands. Neben der Stadt Freiburg beteiligten sich 15 Umlandgemeinden.
In insgesamt 5 Sitzungen im Zeitraum von Mai bis Juli 2022 kamen rund 90 geloste Bürger*innen zum Thema „100% Erneuerbare Energien Region“ zusammen, um konkrete Handlungsempfehlungen für die Region zu erarbeiten.
Am Ende des Prozesses entstand ein Bürgergutachten mit insgesamt 48 Empfehlungen, die im September 2022 der breiten Öffentlichkeit vorgestellt und bis Ende des Jahres in allen Kommunen präsentiert wurde.
Auch in Herrenberg, ebenfalls in Baden-Württemberg gelegen, gab es einen bemerkenswerten Beteiligungsprozess.
Im Zentrum stand die Frage: Wie gelingt es, möglichst viele Menschen einzubinden, die sich sonst häufig nicht zu Wort melden?
Zwischenzeitlich konnte der partizipativ erarbeitete Handlungsleitfaden für die Zukunft von Herrenberg vorgelegt werden. Gemeinsam erarbeitet von vielen Herrenberger*innen, der aktiven Zivilgesellschaft, Gemeinderat und der Verwaltung.
Das Leitbild ist online, wurde zudem in Leichte Sprache übersetzt und als Wimmelbild gezeichnet. Es ist die Grundlage für zukünftig regelmäßige Rechenschaftsberichte.
Ein phantastisches Angebot für junge Menschen entwickelte die Stadt Solingen. Im Rahmen des Projektes „fYOUture – Wenn Demokratie leben lernt“ ist es gelungen, Jugendbeteiligung gesamtstädtisch zu verankern.
Als erste Stadt in NRW entwickelte Solingen eine kommunale Handlungsstrategie für vielfältige Jugendpartizipation, bei der junge Menschen aus unterschiedlichen Milieus erreicht wurden.
Dabei arbeiteten Jugendliche, Vertretenden der Kommunalpolitiker*innen und Vertreter der Verwaltung gleichberechtigt zusammen.
Werder (Havel) liegt im Einzugsbereich von Potsdam. Dort entwickelte man eine ganz andere Form der Beteiligung: den sogenannten Zukunftshaushalt.
Wie bei einem klassischen Bürgerhaushalt können Einwohner*innen Projektideen für ihre Stadt einreichen. Das Gesamtbudget beträgt bis zu 200.000 Euro.
Das Besondere am Zukunftshaushalt ist der starke Fokus auf die Kinder- und Jugendbeteiligung. Denn junge Menschen dürfen nicht nur selbst Ideen einbringen, sondern entscheiden am Ende auch, welche Projekte umgesetzt werden.
Dazu finden zentral angelegte Wahlen in Kooperation mit den örtlichen Schulen statt. Das Wahlergebnis ist bindend.
Ein gelostes Gremium aus Kindern und Jugendlichen bereitet die Wahl vor.
Fünf verschiedene Kommunen in unterschiedlichen Teilen Deutschlands. Fünf ganz unterschiedliche Beteiligungsansätze. Fünf Erfolgsgeschichten.
Und deshalb auch: Fünf Kommunen, die mit der Auszeichnung “Gute Bürgerbeteiligung” 2023 geehrt wurden.
Vergeben wird sie vom Kompetenzzentrum Bürgerbeteiligung e.V. – Kooperation mit dem Berlin Institut für Partizipation.
Sie geht an öffentliche Träger für qualitativ hochwertige Beteiligungsprozesse.
Alle fünf Kommunen bieten Inspiration für ähnliche Vorhaben. Ein genauer Blick lohnt sich für alle, die Demokratie durch Beteiligung stärken wollen.
Und für alle, die eine andere Erfolgsgeschichte kennen oder gar selbst organisiert haben: Bewerbungen für 2024 sind hier möglich.