#194 | Imaginäre Dialoge

Was wäre, wenn mehr Mitbestimmung gar nicht der Faktor ist, der eine Demokratie stark macht? Sondern eine ganz andere Sache …

Ausgabe #194 | 21. September 2023

Imaginäre Dialoge

Müllmänner sind körperlich robuste Typen.

Wer Tag für Tag bei eisigen Temperaturen oder in sengender Hitze den Auswurf unserer noch immer grenzenlos konsumierenden Gesellschaft einsammelt, der neigt nicht zum Jammern.

Und doch hat der Deutsche Gewerkschaftsbund kürzlich mahnend den Finger erhoben. Dahinter stehen Geschichten wie diese:

In Mülheim an der Ruhr steckt die Müllabfuhr in einer Sackgasse fest, der Wendebereich ist von einem Falschparker versperrt. Die Müllmänner kennen den Fahrer. Auch seine Tonne haben sie gerade geleert. Sie klingeln bei ihm zu Hause und bitten ihn, den Wagen wegzufahren. Es folgt ein langer Wortwechsel, der eskaliert.

Am Ende liegt einer der Müllmänner im Krankenhaus.

Laut DGB sind zwei von drei Beschäftigten im öffentlichen Dienst und im privaten Sektor in den vergangenen zwei Jahren Opfer von verbaler oder körperlicher Gewalt geworden.

Die Verrohung der Gesellschaft ist unübersehbar.

Es fehlt an Respekt. Immer mehr Menschen scheinen unfähig, Konflikte einigermaßen vernünftig auszutragen.

Für die Populist*innen am rechten Rand kann kaum Besseres passieren. Hass, Verachtung, Herabsetzung sind ihr Geschäftsmodell. Und sie tragen selbst aktiv dazu bei.

Wir erleben, wie uns die Demokratie in Echtzeit zerrinnt. „Populismus und antidemokratische und völkische Positionen sind auf dem Vormarsch“, sagte der Vorsitzende der Friedrich-Ebert-Stiftung kürzlich bei der Vorstellung einer aktuellen Studie.

Wie soll es also weitergehen mit der Demokratie?

Man weiß es nicht recht, aber man vermutet: Auf jeden Fall braucht es mehr Mitbestimmung.

Wirklich?

Heute wollen wir uns dem Thema mal von einer unpopulären Perspektive annähern.

Was wäre, wenn mehr Mitbestimmung gar nicht der Faktor ist, der eine Demokratie resilient macht?

Stellen wir uns für einen Moment mal vor, wir würden mehr Mitbestimmung flächendeckend einführen. Jetzt. Sofort. Zum Beispiel direkte Volksabstimmungen zu allen entscheidenden Fragen.

Also auch zum Heizungsgesetz, Gendern, zum Umgang mit Geflüchteten und all den anderen Fragen, die gerade die Gesellschaft spalten.

Bei den meisten Themen wäre unklar, wie die Sache ausgeht.

Was aber wahrscheinlich ist: Die Gesellschaft würde sich aktuell durch solch binäre Entscheidungen eher weiter zerlegen als zusammenzufinden.

Vielleicht fehlt es gerade weniger an Mitbestimmung, sondern eher an Kommunikation?

An echter Kommunikation. Nicht an einseitigem Bespielen mit Meinungen, echten oder falschen Fakten.

Der irische Schriftsteller George Bernard Shaw sagte einst: „Das größte Problem in der Kommunikation ist die Illusion, dass sie stattgefunden hat.“

Und genau dieses Missverständnis prägt unsere aktuellen Erfahrungen.

Echte Kommunikation ist keine Einbahnstraße, ist auf Zuhören und Verstehen, auf Nachfragen und Nachdenken angewiesen.

Wir verbringen heute viel Zeit mit Schreiben und Lesen in den sogenannten Sozialen Medien. Doch das, was wir da im digitalen Raum tun, ist in den seltensten Fällen dialogische Kommunikation.

Sie findet in erstaunlich geringem Umfang tatsächlich statt, meist nur imaginär, wie Shaw es treffend beschrieben hat.

Wenn wir die Demokratie stärken wollen, müssen wir mehr Dialoge führen. Tausendfach mehr Dialoge.

Nur wer lernt und erfährt, dass Dialog das Mittel ist, um Konflikte anzugehen, Lösungen zu finden, Wertschätzung zu erleben, der kann Konflikte anders lösen als mit Gewalt.

Dialogerfahrung ist das beste aller Mittel gegen diese Gewalt, gegen den sie auslösenden Hass, gegen Ohnmacht und gesellschaftliche Gleichgültigkeit.

Haben zwei Kontrahent*innen zuvor gemeinsame Dialogerfahrung gesammelt, sinkt die Wahrscheinlichkeit der Eskalation.

Das spannende Phänomen ist: Dies gilt sogar dann, wenn die Diskurskompetenz nicht miteinander, sondern in jeweils anderen Kontexten entwickelt wurde.

Genau deshalb ist die dritte, die deliberative Säule der Vielfältigen Demokratie so wichtig. Wahlen oder direktdemokratische Entscheidungen sind für eine Demokratie essenziell. Aber sie alleine genügen nicht.

Diskurskompetenz ist der Schlüssel.

Die braucht Training. Deshalb ist auch in Beteiligungsprozessen die Information stets wichtig, die diskursorientierte Kommunikation jedoch zentral.

Sie ist das Wesen Guter Beteiligung.

Und sie kann bewusst gestärkt werden. Zum Beispiel, wenn Formate und Methoden ausgewählt werden. Dann lohnt es sich stets, jene zu wählen, die den einzelnen Beteiligten ein Maximum an Diskurserfahrung ermöglichen.

Das muss nicht zwangsläufig immer ein Diskurs zwischen Beteiliger*innen und Beteiligten sein.

Ohne den geht es natürlich nicht. Obgleich es immer wieder Versuche gibt, Beteiligung nahezu ohne diesen Diskurs zu organisieren, meist aus Sorge vor Konflikten und Eskalation.

Ohne Dialog zwischen Beteiliger*innen und Beteiligten kann keine Gute Beteiligung gelingen. Doch die Mehrzahl der Diskurserfahrungen wird zwischen den Beteiligten stattfinden. Und das ist gut so.

Davon brauchen wir sehr viel mehr.

Denn das Beste, was unserer Demokratie widerfahren kann, ist, dass wir uns streiten. Oft, engagiert, aber von gegenseitigem Respekt geprägt.

Und das lernt man, wie Fußball oder Geige spielen.

Indem man es tut.

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