Ausgabe #197 | 12. Oktober 2023
Schöner scheitern
Chris war jung. Gerade mal 21 Jahre alt. Und er hatte eine geniale Idee.
Zumindest glaubte er das.
Seine Kumpels glaubten das auch. Also gründeten sie im Jahr 2000, auf dem Höhepunkt der New Economy Welle, ein Startup.
Es hieß Moomax. Und sollte irgendwie Internet-Avatare vermarkten.
So richtig klar ließ sich das Geschäftsmodell nicht erklären. Wenig überraschend daher: Es funktionierte nicht.
Zuvor verbrannten Chris & Co. rund 2 Millionen Euro, Das meiste davon kam von der KfW Bank, die ihren Anteil nahezu komplett abschreiben durfte.
Während im Gründerland USA ein gescheitertes Startup nur als Lernprozess für die nächste Gründung betrachtet wird, ist in Deutschland eine Unternehmerkarriere nach der ersten Pleite meist für lange Zeit vorbei.
Scheitern hat in unserem Land immer noch den Charakter des Endgültigen.
Das ist in der Wirtschaft so, aber auch in der Demokratie.
Tatsächlich hat unser Protagonist Chris kein weiteres Unternehmen erfolgreich aufbauen können. Oder wollen. Oder müssen.
Er wechselte in die Politik.
Heute ist Christian Lindner Finanzminister der Bundesrepublik Deutschland und trägt Verantwortung für ungefähr 200.000 mal mehr Geld, als Moomax in den Sand setzte.
Doch das sind Ausnahmekarrieren.
Denn Scheitern in Deutschland ist Tabu und Stigma zugleich. Und das gilt nicht nur für Unternehmen oder Einzelpersonen.
Auch unsere demokratischen Prozesse, unsere Vorhaben, unsere Gesetze scheitern nie.
Und wenn sie es doch tun, wird es gerne schamhaft verschwiegen. Gelingt auch das nicht, werden Schuldige gesucht.
Das sind dann meist die anderen.
Man denke nur an Christian Lindners Kommentare zu den aktuellen Wahlergebnissen in Bayern und Hessen.
Dabei ist eine der Kernannahmen der Demokratie eben jene, dass gesellschaftliche Vorhaben, Regelungen und Eingriffe scheitern können – um dann demokratisch korrigiert zu werden.
Gut funktionierende Demokratie organisiert das Scheitern so, dass daraus Lernprozesse für die Gesellschaft entstehen können.
Scheitern ist in einer Demokratie kein Betriebsunfall, sondern systemrelevant.
So wie in der guten Wissenschaft: „Wir irren uns empor“ ist ein beliebtes Zitat unter Forschenden.
Schon Thomas Alva Edison sagte: „Ich bin nicht gescheitert. Ich habe 10.000 Wege entdeckt, die nicht funktioniert haben.“
Nichts anderes tun wir, wenn wir Demokratie stärken, indem wir neue Formen dialogischer Beteiligung organisieren.
Dabei wird jeden Tag aus neue munter geirrt. Und das längst nicht immer empor. Oft auch mal quer. Oder steil abwärts.
Das gehört zu Diskursen.
Und doch können sie am Ende nicht nur gemeinsames Verständnis, sondern oft genug auch gemeinsam getragene Lösungen produzieren.
Können sie. Müssen sie aber nicht.
Gibt man die Suchbegriffe „Bürgerbeteiligung“ und „gescheitert“ ein, präsentiert Google einem über 100.000 Ergebnisse.
Zieht man Mehrfachnennungen und Irrwege des Google Algorithmus ab, bleiben immer noch eine Menge Beteiligungsprozesse übrig, die öffentlich als nicht erfolgreich beschrieben werden.
Sucht man dagegen nach gescheiterten Prozessen auf den Webseiten deutscher Kommunen, findet man … so gut wie nichts.
Das ist verständlich. Und eine verpasste Chance.
Denn natürlich kann Beteiligung scheitern.
Aus 1000 Gründen. Und das auch ganz ohne Schuldige.
Überforderte Bürger*innen, falsche Themen, unterbliebenes Erwartungsmanagement, unerfahrene Moderator*innen, zu wenig Geld, Zeit oder Beteiligte, böswillige Stakeholder, abstrakte Planungen, unerwartete Konflikte – die Liste ließe sich ewig fortsetzen.
Die entscheidende Frage ist: Was lernen wir daraus?
Die häufige Antwort lautet: Nichts.
Scheitern, dass nicht als Scheitern kommuniziert werden darf, verbaut die Chance auf Lerneffekte.
Und das ist schade.
Der Wert der Beteiligung liegt in der gemeinsamen Deliberation, in der Erfahrung, dass Demokratie spannend ist, oft schwierig, selten einfach und noch seltener schmerzfrei.
Und fehlerfrei schon gar nicht.
Gute Beteiligung ist eben manchmal auch gemeinsames Irren – oder Scheitern.
Und das ist schön. Wenn wir es zulassen. Und dann auch genauso gemeinsam daraus lernen.
Denn die Beteiligung in Deutschland ist noch jung. Sie muss, kann und darf noch viel lernen.
Aus Erfahrung. Und aus Erfahrung lernt man am besten, wenn man sich genau die Dinge anschaut, die nicht so gut funktioniert haben.
Im Idealfall übrigens auch hier: partizipativ.
In Heidelberg zum Beispiel führt der dortige AK Bürgerbeteiligung immer wieder sogenannte „Werkstattgespräche“ durch. Dann werden Beteiliger und Beteiligte eines abgeschlossenen Prozesses eingeladen. Sie berichten über ihre Einschätzungen und diskutieren gemeinsam mit den AK-Mitgliedern, welche Lektionen gelernt wurden.
Harmonisch ist das oft, aber nicht immer.
Genau deshalb ist es so wichtig.
Und für diejenigen unter uns, die nur in nichtscheiternden Prozessen unterwegs sind – oder sein dürfen -, noch eine kleine Methode zum Abschluss:
In meinen Teams werte ich Einzelevents und Prozesse gerne nach der THW-Methode aus:
Alle Mitwirkenden formulieren ihr persönliches TIEF, ihr persönliches HOCH und eine Antwort auf die Frage, WELCHE eine Sache sie beim nächsten Mal anders machen würden.
Diese 15 Minuten für eine gemeinsame Reflexion lohnen sich.
Immer.
THW-Methode, das ist einfach Klasse! Sollte in jedem Führungskräfte-Seminar Standard sein!