#202 | Wir sind die Ausnahme

Demokratie ist die Ausnahme, nicht die Regel. Um so wichtiger ist es, genau zu wissen, was sie stark macht.

Ausgabe #202 | 16. November 2023

Wir sind die Ausnahme

Viele Legenden ranken sich um die Gründung einer der ältesten heute noch existierenden Demokratien. Ganz besonders um einen entscheidenden Moment:

Den Verfassungskonvent der Vereinigten Staaten.

Im Jahr 1787 entwarf dieser Konvent die heute noch gültige Verfassung der USA.

Der Konvent brauchte eine Weile, bis er in Schwung kam. Anfangs waren gerade mal Delegierte aus zwei Staaten anwesend.

Und es war auch lange nicht klar, wie die Verfassung aussehen würde. Es ging um die Unabhängigkeit von der Englischen Krone, das war gesetzt.

Aber wie dieses unabhängige Staatengebilde funktionieren sollte, war lange durchaus offen.

Überliefert ist deshalb auch ein Zitat von einem der Gründerväter: Benjamin Franklin wurde beim Verlassen des Kongresses von einer Frau gefragt: „Doktor, was haben wir den nun bekommen? Eine Republik oder eine Monarchie?“

Die Antwort lautete: „Eine Republik. Wenn ihr sie bewahren könnt.“

Obwohl dieses Zitat nirgends schriftlich belegt ist, wird es in den USA immer wieder kolportiert.

Auch deshalb, weil dahinter ein ganz bestimmtes Verständnis von Demokratie steckt, das in den aktuellen Debatten regelmäßig ignoriert wird.

Die „Krise der Demokratie“ ist ein Postulat, das täglich durch Medien, Debatten und Studien geistert. Einigen Autor*innen zu Folge befinden wir uns bereits in der „postdemokratischen Ära“ oder zumindest auf dem mehr oder weniger unaufhaltsamen Weg dahin.

Selbst unsere Innenministerin Nancy Faeser lud kürzlich zu einem Kongress mit dem programmatischen Titel „Demokratie unter Druck.“

„Unsere Demokratie wird durch verschiedene Trends und Entwicklungen herausgefordert“, stand in der Einladung. Und weiter:

„Auswirkungen von Krieg, Klimawandel und Migrationsbewegungen, aber auch die Verschiebung gesellschaftlicher Debatten und das Anwachsen rechtsextremer, rassistischer und menschenfeindlicher Strömungen sind nur einige Stichworte.“

Das klingt ebenso vertraut wie nachvollziehbar.

Und doch ist es gleich auf zwei Ebenen erstaunlich hemdsärmelig formuliert.

Warum? Weil die Geschichte der Demokratie uns zwei Dinge lehrt:

Zum einen steht die Demokratie immer unter Druck. Zum anderen hat dieser Druck sehr viel weniger mit äußeren Ereignissen zu tun, als oft angenommen.

Historisch betrachtet, sind mehr oder weniger demokratische Gesellschaftsformen eine überaus seltene Ausnahme.

Der „Normzustand“ menschlicher Gesellschaften ist die Autokratie in unterschiedlichsten Spielarten, von der Militärdiktatur bis zur absolutistischen Monarchie. Die Menschen wurden und werden unterdrückt von Fürsten, Herzogen, Kirchenführern, Clans, Kasten oder Warlords.

Demokratie ist in der Geschichte der Menschheit eben nicht der Normalzustand, der hin und wieder durch äußere Einflüsse „unter Druck“ gerät.

Wenn wir dieses Bild pflegen, ist der Gedanke verführerisch, dass die „Abwehr“ von solchen äußeren Bedrohungen der Schlüssel zum Erhalt der Demokratie sei.

Der Politikwissenschaftler Wolfang Merkel hat dieses Verständnis schon 2016 kritisiert:

„Wir erstellen ständig nachträglich Erklärungen für den Aufstieg des Irrationalen. Die Weimarer Inflation habe den Aufstieg Hitlers verursacht, sagen wir; die Verarmung des Zarismus löste die bolschewistische Revolution aus. Tatsächlich war die Inflation in Deutschland lange vor Hitlers Aufstieg vorbei, und Lenin kam nicht durch etwas an die Macht, das einer Revolution ähnelte – was bereits unter der Führung weitaus pluralistischerer Politiker geschehen war –, sondern durch einen Staatsstreich einer militanten Minderheit.“

Viel spannender als die Frage, was also den vermeintlichen Ausnahmezustand Autokratie verursacht, ist deshalb die Frage, was die Demokratie verursacht.

Demokratie ist die Alternative zur Autokratie.

Sie ist nicht der Standard, der durch Arbeitslosigkeit, Kriege oder Krisen gefährdet ist. Sie ist die Ausnahme, die dann funktioniert, wenn sie ihre Stärken ausspielt.

Und auch nur solange sie dies tut.

Deshalb werden wir auch nicht Demokratie stärken, indem wir Extremismus bekämpfen. Das müssen wir tun, aber nur das zu tun, genügt nicht.

Der Weg, die Demokratie zu stärken, besteht darin, die Demokratie zu stärken.

Das heißt: den Menschen mehr davon anzubieten. Viel mehr. Viel öfter, viel wirksamer.

Demokratie lebt nur, wenn wir sie leben. Nicht nur alle vier Jahre bei Wahlen. Sondern Tag für Tag, Woche für Woche. In jeder Stadt, jedem Dorf, jeder Schule.

Demokratie ist weder gottgegeben noch historisch zwangsläufig.

Sie ist nicht da. Sie wird erarbeitet. Das ist der Druck, den es braucht, damit Demokratie existiert. Und den braucht es immer. Und immer wieder.

Darin sind wir Menschen global betrachtet in den letzten 50 Jahren gar nicht so schlecht gewesen.

Nie gab es so viel Demokratie wie in der aktuellen Epoche.

Was verführerisch ist und uns glauben lässt, die Stagnation der Demokratisierung sei der Normalzustand.

Das ist er nicht. Und das ist die Gefahr.

Deshalb sprechen wir momentan viel mehr von der „Bedrohung“ der Demokratie als von der „Gestaltung“ der Demokratie.

Wir stecken Millionen Steuergelder in „Extremismusbekämpfung“ und viel zu wenig Geld, Zeit und Geduld in Demokratieentwicklung.

Doch das müssten wir.

Wenn wir die Demokratie behalten wollen, müssen wir sie leben. Mit all ihren Ecken, Kanten, Frustrationen und Mühseligkeiten. Mit mehr Teilhabe, mehr Beteiligung zu den Themen, die die Menschen betreffen, mehr Streit aber auch mehr Respekt und viel mehr mühseligem Ringen um Einvernehmen.

Demokratie ist das, was wir draus machen.

Sie stirbt dann, wenn wir damit aufhören.

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