#208 | Die Macht der Minderheit

Mehrheiten machen Demokratien stabil. Vor allem: wechselnde Mehrheiten.

Ausgabe #208 | 28. Dezember 2023

Die Macht der Minderheit

Ein fester Grundpfeiler der Demokratie ist das Ringen um Mehrheiten.

Denn das definiert sie.

In einer Demokratie regiert die Mehrheit. Die Minderheit darf opponieren. Und hoffen, eines Tages in der Mehrheit zu sein.

Ob in der Schule oder in Parlamenten: Dieses Verständnis von Demokratie ist weit verbreitet.

Und falsch.

Tatsächlich setzen sich in parlamentarischen Demokratien überraschend häufig Minderheiten durch.

Auch in der Bundesrepublik Deutschland.

In der 17. Legislaturperiode regierte zum Beispiel eine CDU/CSU-FDP Koalition. In mehreren entscheidenden Fragen setzte sich damals eine Minderheitsposition durch.

So waren GRÜNE, LINKE, SPD und FDP für die Gleichstellung von Partnerschaften mit klassischen Ehen. Sie stellten rund 62 Prozent der Parlamentarier. Die Union zwang ihren kleinen Koalitionspartner zur Disziplin und schmetterte das Gesetz ab.

Genau so geschah es bei der Frage der doppelten Staatsbürgerschaft. Verhindert von nur rund einem Drittel des Bundestages.

Dafür gab es einen Steuernachlass für Hoteliers. Ein exklusives Projekt von CSU und FDP (22% des Bundestags).

Noch drastischer war das Missverhältnis bei der Einführung eines Betreuungsgeldes für familiäre Kindererziehung. Dafür war eigentlich nur die CSU (7%), aber sie setzte sich in der Koalition durch.

Diese Liste ließe sich seitenlang fortführen.

Sie zeigt eines: Was am Ende eines parlamentarischen Prozesses Gesetz wird, hängt von vielen machpolitischen, lobbyistischen und medialen Einflussfaktoren ab. Nicht unbedingt aber von inhaltlichen Mehrheiten.

Um so spezieller ist in unserer aktuellen Demokratie die Sichtweise auf den Begriff „Mehrheit“. Illustriert auch durch eine schon beinahe reflexartige Furcht vor einem anderen Modell:

Der Minderheitsregierung.

In vielen Köpfen rangiert die Minderheitsregierung hart am Rande des gesellschaftlichen Zusammenbruchs, als letzte verzweifelte Bastion einer eingeschränkten Regierbarkeit.

Diese Sichtweise ist nach wie vor prägend.

Und zeugt von einem statisch-abstrakten Demokratieverständnis.

In 10 von 16 Bundesländern gab es bereits mindestens einmal zumindest für eine kurze Zeit eine sogenannte „Minderheitsregierung“.

In keinem davon ist die Demokratie kollabiert.

Dänemark wurde in rund 75% seiner demokratischen Geschichte von einer Minderheitsregierung gelenkt. In Schweden waren es sogar 76%, in Spanien 67%, In Tschechien immerhin 51%. Auch in Belgien, Finnland, Kanada, Frankreich, Portugal, Irland und vielen anderen Staaten ist der Anteil der Jahre mit Minderheitsregierungen zweistellig.

Minderheitsregierungen sind nicht die Regel, aber auch alles andere als sensationelle Ausnahmen.

Warum?

Weil auch in Minderheitsregierungen die Mehrheit regiert. Nicht immer, aber zumeist – wie in Mehrheitsregierungen eben auch.

Auch und gerade in Minderheitsregierungen müssen Mehrheiten gesucht und gefunden werden. Allerdings über Regierungsfraktionen hinweg.

Das macht Demokratie besonders lebendig.

Auf einmal braucht es mehr Dialoge, mehr Kompromisse, mehr Aushandlungsprozesse, mehr Deliberation in den Parlamenten.

Überzeugen und überzeugt werden sind plötzlich ernsthafte politische Faktoren. Plötzlich werden Argumente der Opposition als Argumente gelesen – und nicht als rituelle Polemik.

Kompromisse und Verhandlungen sind jedoch elementarer Bestandteil einer resilienten Demokratie – und rücken in Zeiten von Minderheitsregierung besonders in den Fokus.

Die dazu nötigen Kompetenzen sind in den Parlamenten aktuell wenig prägend, auf Bundesebene gibt es seit 1949 keine Erfahrungen mit Minderheitsregierungen.

Das kann sich ändern. Die aktuellen Umfragen, die schwachen Zahlen für die demokratischen Parteien und der Höhenflug der AfD lassen mittelfristig eine Minderheitsregierung plötzlich als realistische Option erscheinen.

Ob es soweit kommen wird? Wir wissen es nicht.

Was wir aber aus den Erfahrungen zahlreicher Beteiligungsprozess in unserem Land wissen:

Verhandeln, Kompromisse suchen, Einvernehmen erarbeiten, Minderheitsargumente erwägen, wechselnde Mehrheiten akzeptieren und mit ihnen arbeiten – alles das ist nicht dysfunktional, sondern lebendige Demokratie.

Zigtausende von Menschen in unserem Land haben das bereits selbst erlebt. Nicht immer funktioniert das glatt, schon gar nicht konfliktfrei, oft ist es anstrengend.

Aber es funktioniert. Es produziert Ergebnisse. Und es stärkt die Demokratie.

Was vielen deutschen Kommunen Gemeinschaft und Gemeinwohl stärkt, ist auch überregional alles andere als eine Bedrohung oder Krise.

Tag für Tag um gesellschaftsverträgliche Lösungen zu ringen, das ist Demokratie.

Zugegeben: Es ist die mühsamere Variante. Aber es ist eben auch jene, die unsere Demokratie stärkt.

Alles, was unsere Politiker*innen brauchen, um in diesen Prozessen wirksam zu sein, können sie übrigens lernen.

Indem sie sich persönlich in einige der vielen „kleinen“ Beteiligungsprozesse einbringen, bei denen das zum Alltagsgeschäft gehört.

Beteiligung ist, anders als noch zu oft in Parlamenten formuliert, eben keine „Zumutung“ für die Demokratie.

Sie ist Demokratie.

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Karin Rasmussen
3. Januar 2024 11:14

Ganz herzlichen Dank für diesen fundamentalen Satz: „Was am Ende eines parlamentarischen Prozesses Gesetz wird, hängt von vielen machpolitischen, lobbyistischen und medialen Einflussfaktoren ab. Nicht unbedingt aber von inhaltlichen Mehrheiten.“ Und bitte klären Sie weiter auf, was DEMOKRATIE wirklich heißt! Denn allein das falsche Verständnis von Mehrheits-„Wahrheiten“ macht die Bundesrepublik nicht demokratischer. Auch wenn das Ringen um wahre Demokratie selten als Hauptaufgabe etablierter parlamentarischer Strukturen angesehen wird, die Beteiligungskultur muss endlich zum Mindestanspruch an alle Kandidaten für eine politische Karriere werden!

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