Ausgabe #209 | 4. Januar 2024
Wahn und Wirklichkeit
„Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind.“
So beginnt eines der bekanntesten deutschen Gedichte.
Johann Wolfang von Goethes „Erlkönig“ entstand 1782. Noch über 200 Jahre danach mühen sich deutsche Schüler*innen damit ab, eine überzeugende Interpretation zu finden.
Sie erinnern sich?
Der Sohn des Reiters glaubt in der Finsternis die Gestalt des Erlkönigs zu erkennen. Der Vater bemüht sich, für die Halluzination natürliche Erklärungen zu finden.
Ob Nebelstreif, Blätterrauschen oder der Widerschein alter Weiden. Nichts kann das Kind beruhigen, das immer panischer wird. Die Tragödie nimmt ihren Lauf: „Er hält in den Armen das ächzende Kind, erreicht den Hof mit Mühe und Not; In seinen Armen das Kind war tot.“
Ich hatte meinem Deutschlehrer damals dargelegt, dass offenbar der drogensüchtige Vater dem Wahn verfallen sei und seinen Sohn erdrückt habe.
Doch diese Interpretation wurde mir nicht abgekauft.
In den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts waren Lesarten populärer, die zum Beispiel von pubertären Phantasien handelten.
Aktuell wird auch Kindesmissbrauch („Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt; / Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt“) darin gelesen.
Es gibt noch weitere Interpretationen. Viele sind Kinder ihrer Zeit. Fast alle schreiben dem Vater und/oder dem Kind Halluzinationen zu.
Halluzinationen beruhen auf falschen Wahrnehmungen menschlicher Sinne. Sie sind ein Symptom, basierend auf unterschiedlichen Krankheitsbildern.
Halluzinationen können von Stoffwechselerkrankungen ausgelöst werden oder diverse psychische Erkrankungen begleiten.
Auch in der hochaktuellen KI-Debatte findet sich der Begriff. Im Bereich der Künstlichen Intelligenz ist eine Halluzination ein überzeugend formuliertes Resultat einer KI, das aber schlicht falsch ist.
Als ich vor einiger Zeit ChatGPT nach dem Lebenslauf eines frei erfundenen Bundestagsabgeordneten namens Alexander von Quarkhausen fragte, präsentierte der Chatbot mir Fakten, Zahlen, sogar Zitate aus Talkshows – allesamt frei erfunden.
Michael Cohen, Ex-Anwalt von Donald Trump, musste kürzlich vor Gericht zugeben, dass er seine eigene Verteidigung vor Gericht mit falschen Gerichtsurteilen untermauert habe. Nachdem der Richter ihn damit konfrontiert hatte, gab er zu, einen Google Chatbot genutzt zu haben – der hatte das fragliche Urteil schlicht halluziniert.
Halluzinationen können aber nicht nur in Gedichten und vor Gerichten zum Thema werden.
Sie können ganze Gesellschaften beeinflussen. Die Liste von Kaisern, Königen und Diktatoren mit Wahnvorstellungen ist lang.
Nero ließ im Wahn halb Rom abfackeln.
König Karl VI. von Frankreich litt unter Glaswahn. Er dachte, sein Körper würde zerbrechen, wenn er fiel oder jemand ihn berührte.
König George III. von England sprach mit Toten und Abwesenden.
Das sind nicht nur lustige Anekdoten. Fast immer führten Halluzinationen dazu, dass andere Akteure die wirkliche Macht ausübten – und zum Teil abenteuerliche Entscheidungen getroffen wurden, nur um den irren Herrscher zu besänftigen.
Wenn Halluzinationen – also Dinge, die so nie stattfanden – politische Entscheidungen beeinflussen, ist das stets gefährlich.
Das gilt auch für politische Teilhabe.
Dort sind es nicht nur die „alternativen Fakten“, die Prozesse ins Trudeln bringen können.
Der Umgang mit ihnen und ihren Protagonist*innen ist herausfordernd. Auch in Formaten der Bürgerbeteiligung. Ganz besonders bei gesellschaftlichen Konfliktthemen.
Tatsächlich ist der Beteiligungsprozess an sich jedoch bereits die erste und beste Antwort darauf.
Denn Halluzinationen entstehen meist isoliert, im diskursfreien Raum. Dort können sie sich durchaus festigen. Auch, wenn eine passende soziale Blase bestärkt.
Gute Beteiligung zeichnet sich jedoch genau dadurch aus: Sie organisiert Diskurse über Blasen hinweg.
So treffen Halluzinationen auf Wirklichkeit. Das geht nicht ohne Konflikt, aber in der Regel zu Lasten der Halluzination.
Gemeinsame Faktenchecks, externe Expertise, auch einmal das Zurückstellen eines Themas bis zur belegbaren Klärung: Der Umgang mit halluzinierten Fakten ist immer lästig und häufig ein Verzögerungsfaktor. Und nicht immer gelingt es, die Urheber zu überzeugen.
Aber er bringt am Ende immer den Prozess voran, schafft Klarheit und Konsenspotential.
Er ist auch nicht vermeidbar.
Denn Gute Beteiligung bildet ein breites gesellschaftliches Spektrum ab. Nur so werden die Ergebnisse gesellschaftlich vermittelbar.
Deshalb ist jede Halluzination in Beteiligungsprozessen lästig, aber eben auch ein diskursiver Arbeitsauftrag.
Genau für solche Dinge ist Beteiligung da.
Angesichts der zunehmenden Wirksamkeit halluzinierter Fakten in den sozialen Medien und populistischer Politik kann es also nicht darum gehen, Halluzinationen aus der Beteiligung herauszuhalten.
Sondern mehr, öfter, umfassender zu beteiligen. Gerade auch zu Themen mit hoher Halluzinationsquote.
Voraussetzung dafür ist echte Beteiligung. Aktuell beobachten wir jedoch ein anderes Phänomen:
Die halluzinierte Beteiligung.
Sie gewinnt gerade an Bedeutung. Und das ist ein Problem.
Doch darüber mehr in der folgenden Ausgabe unseres Newsletters. Dann betrachten wir genauer, was halluzinierte Beteiligung ist, wie wir sie erkennen – und vermeiden können.
Ich glaube, dass es sich in Erfurt betreits um halluzinierte Beteiligung handelt. ich bin gespannt, ob ich recht habe.