Ausgabe #210 | 11. Januar 2024
Das Gemetzel
Kontroverse Debatten werden gerade in den sozialen Medien geführt. Viele Menschen beklagen, die Staatsmacht reagiere höchst unterschiedlich auf Proteste.
Während protestierende Bauern mit Samthandschuhen angefasst werden, erleben junge Klimaprotestierende weiter Kriminalisierung und übertriebene Schmerzgriffe bei Straßenräumungen, so lautet der Vorwurf.
Wie sehr hier mit zweierlei Maß gemessen wird, ist Gegenstand der Debatte. Und es ist gut, dass sie geführt wird.
Zu einer lebendigen Demokratie gehört auch das Recht auf Protest. Dass dieser Protest oft wenig diplomatisch daherkommt und auch Belastungen für gänzlich Uninteressierte produziert, gehört dazu.
Manchmal werden dabei auch Regeln ignoriert und Gesetze verletzt. Dass die auch dann gelten, wenn die Motive der Akteur*innen gemeinwohlorientiert sind, ist gesellschaftlicher Konsens.
Dass die Polizei in solchen Fällen einschreitet, ist Bestandteil des Rechtsstaates.
Was aber immer wieder zu Debatten führt, ist die Frage nach der Verhältnismäßigkeit der Mittel.
Im Falle der Bauern und der Klimaaktivist*innen streiten wir gerade. Doch was wir hier an Polizeimaßnahmen erleben, ist kein Vergleich mit Dingen, die wir bereits erlebt haben.
Zum Beispiel im September 2010. Damals hatten sich vorwiegend junge Menschen im Stuttgarter Schlosspark versammelt, um gegen die Baumfällungen für Stuttgart 21 zu protestieren.
Die folgenden Ereignisse gingen als „Schwarzer Donnerstag“ in die Geschichte ein. Rechtswidrig, wie später festgestellt wurde, kesselte die Polizei die Menschen ein, traktierte die Wehrlosen mit Pfefferspray und Wasserwerfern.
Jugendliche wurden traumatisiert, es gab Schwerverletzte, ein Opfer erblindete dauerhaft. Beteiligte sprachen von einem „Gemetzel“.
In der Folge eskalierten die Proteste. Immer mehr Menschen gingen regelmäßig auf die Straße, aufwändige Schlichtungsprozesse konnten erst Jahre später den gesellschaftlichen Frieden in der Region einigermaßen wiederherstellen.
Bis heute gilt Stuttgart 21 als Initialzündung für mehr Bürgerbeteiligung in ganz Deutschland. In Baden-Württemberg führte sie unter dem ersten grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann zu einer eigenen Staatsrätin für Beteiligung und der „Politik des Gehörtwerdens“.
Seitdem haben wir viel gelernt. Und auch die meisten politischen Entscheider*innen haben akzeptiert, dass ohne umfassende Beteiligung kein Großprojekt mehr realistisch ist.
Die damals Verantwortlichen bei der Bahn und in der Politik, waren schon vor dem Schwarzen Donnerstag von der Intensität der Proteste überrascht – ebenso wie vom Ruf nach mehr Beteiligung.
Sie betonten immer wieder, sie hätten doch beteiligt. Sehr intensiv und sogar frühzeitig.
Und das stimmt.
Tatsächlich gab es eine offene Bürgerbeteiligung in der Frühphase des Projektes, genauso, wie es Expert*innen fordern.
Das Problem: Frühzeitig war in diesem Fall wirklich frühzeitig. Sogar noch vor Beauftragung des Architektenbüros.
Zu frühzeitig?
Immerhin fand die Beteiligung 13 Jahre vor dem Schwarzen Donnerstag statt. Da waren einige der vielen jungen Demonstrant*innen noch gar nicht geboren.
Das Problem: Für die Verantwortlichen hatte eine Beteiligung stattgefunden.
Für die protestierenden Menschen des Jahres 2010 nicht.
So hart es klingen mag: Bürgerbeteiligung hat die Betroffenen im Fokus. Sie ist nur dann real, wenn sie für die Betroffenen stattfindet.
Alles andere ist: Halluzination. Real nur für eine Seite. Nicht existent für die andere.
Tatsächlich sprechen wir in solchen Fällen von halluzinierter Beteiligung. Sie gibt es in – grob gesagt – drei Varianten:
1. Beteiligung, die keinen Wirkungsanspruch hat.
Die Prozesse können noch so perfekt geplant sein, die Moderation noch so gut, wertschätzend und zugewandt, die Formate aufwändig und bewährt: Wenn seitens der beteiligenden Institution keinerlei Wirksamkeit der Ergebnisse geplant ist, ist sie wertlos. Beteiligung ist Dialog mit Wirkungsanspruch. Nicht mit Wirkungsgarantie. Aber eben mit dem Anspruch, dass Ergebnisse ernsthaft in Entscheidungsprozesse einfließen, dort geprüft und auch deren Wirkung zurückgespiegelt werden.
2. Beteiligung, die die falschen Menschen beteiligt.
Wenn Beteiligung Dialog mit Wirkungsanspruch ist, dann muss dieser Dialog auch mit den richtigen Menschen geführt werden. Also mit den Betroffenen. Insbesondere jenen Betroffenen, die sich in den klassischen parlamentarischen Prozessen nicht einbringen (können). Irgendwelche Bürger*innen zu irgendwelchen Themen zu beteiligen, ist keine Bürgerbeteiligung.
3. Beteiligung, die nur Beschäftigung ist.
Werden die richtigen Betroffenen zu den richtigen Themen beteiligt, geht es schließlich auch darum, dass richtig zu tun. Allzu oft werden reine Informationsveranstaltungen als Bürgerbeteiligung etikettiert. Ebenso Meinungsumfragen oder Vorschlagssammlungen. Nichts davon ist Beteiligung. Das gilt übrigens auch für manche Dialoge – wenn diese ausschließlich zwischen den Bürger*innen geführt werden, ohne dass Entscheider*innen oder zumindest deren Vertreter*innen involviert sind oder die ausgetauschten Argumente auch nur zur Kenntnis nehmen. So manche Diskussionsplattform im Internet ist keine Beteiligung – sondern lediglich Beschäftigung.
Letztlich gilt: Nicht immer, wenn Bürger*innen beteiligt werden, ist es auch Bürgerbeteiligung.
Erst, wenn die Richtigen zum richtigen Thema, auf richtige Art und mit richtigem Wirkungsanspruch beteiligt werden, findet Bürgerbeteiligung statt.
Alles andere ist Halluzination.
Prima hergeleitet und RICHTIG zusammengefasst. Das Hilft an unser aller Haltung zu arbeiten. Vielen Dank für den Impuls😊🙏