Ausgabe #22 | 28. Mai 2020
Wir brauchen mehr Streit
Vorgestern hatte ich eine kleine Videokonferenz mit einigen kommunalen Mandatsträger*innen. Wir alle haben in den vergangenen Wochen neue soziale Praktiken gelernt, dazu gehört auch, sich zu Beginn solcher Konferenzen kurz miteinander „warmzuplaudern“, während die einen noch an ihren Headsets nesteln und die anderen ihren Nachwuchs mit Malstiften versorgen.
Diesmal sprachen wir kurz darüber, was wir in Pandemiezeiten am meisten vermissen. Verblüfft hat mich die Antwort des Oberbürgermeisters einer süddeutschen Großstadt.
Den Streit.
Das musste er uns natürlich erklären: „Als OB ist man Tag für Tag unmittelbar mit Menschen konfrontiert …“, berichtete unser Gesprächspartner, „ …mit Wirtschaftsvertretern, Bürgern, Vereinsvertretern. Und alle wollen was von einem. Die eine Hälfte will, dass man etwas für sie tut, die andere Hälfte beschimpft einen, weil man etwas getan hat. Das ist normal. Aber von Angesicht zu Angesicht entwickelt sich aus Kritik und Konflikten fast immer ein Streit, also ein Gespräch. Nicht immer sachlich. Aber man hört sich doch zu, schätzt sich, versucht, den anderen zu überzeugen. Streit ist das, was einen weiterbringt.“
Das hätte sich in Corona-Zeiten grundlegend geändert. Da man sich nicht mehr sehe, sondern nur noch schriftlich, über E-Mails, Facebook, Twitter und Co. kommuniziere, gäbe es keinen Streit mehr, sondern fast nur noch Beschimpfungen. Man wolle gar nicht mehr überzeugen, sondern nur noch verurteilen.
Der Mann hat recht.
Und unseren Respekt verdient. Denn er macht einen feinen Unterschied und weist uns darauf hin, dass Streit ein ganz wesentlicher Treibstoff unserer Demokratie ist.
Manch eine eskalierende Online-Debatte, viele Äußerungen auf den aktuellen „Hygiene-Demos“, viel Frust in der aktuellen Situation hat wohl auch etwas damit zu tun, dass wir die Kunst des Streitens ein wenig verlernt haben könnten. Ja mehr noch: Politischer Streit wird in Deutschland von vielen Menschen kritisch betrachtet. Wenn gestritten wird, ist das für manche ein Zeichen, das etwas nicht stimmt.
Das Gegenteil ist richtig.
Wir alle wissen: Eine Ehe ist erst dann am Ende, wenn die Partner aufhören, zu streiten. Wenn der andere uns so wenig interessiert, dass wir ihm nicht einmal mehr widersprechen.
Ähnliches erleben wir gerade in einer zunehmend separierten Gesellschaft. Wir haben gelernt, uns im Wohlfühlkosmos Gleichgesinnter auszutauschen. Die Algorithmen von Facebook & Co. forcieren das bewusst. Das tut gut, bestärkt uns, gibt Sicherheit in einer von Unsicherheit geprägten Welt.
Wehe, es purzelt uns ein Beitrag von jemandem dazwischen, der diese Welt völlig anders sieht als wir. Mit dem Streiten wir nicht, über den fallen wir her, sekundiert von unseren Freunden. Wir versuchen kaum noch, die andere Konfliktpartei zu überzeugen. Wozu auch? Wir haben nichts davon, wir müssen uns mit ihm auf keinen Kompromiss einigen, wir streben nur nach dem Applaus unser Sympathisanten.
So führen wir Konflikte, aber verlernen das Streiten.
So absurd das klingt. Es ist die vom großen Soziologen Ralf Dahrendorf kritisierte „Sehnsucht nach Harmonie“, die unsere Gesellschaft auseinandertreibt. Denn eben die Harmonie in der eigenen „Social Bubble“ ist es, die uns im Zeitalter der asozialen Medien den Streit mit Andersdenkenden verlernen lässt.
Das ist nicht banal, sondern ein zentrales Problem unserer aktuellen Demokratie.
Demokratie lebt von der lebendigen Auseinandersetzung, von Interessengegensätzen und ihrem Ausgleich, der immer wieder neu verhandelt werden kann und muss. Gerade die Erfahrungen in der aktuellen Corona-Pandemie zeigen uns eindringlich:
Wenn wir nicht lernen, wieder mehr zu streiten, werden wir langfristig große Probleme haben, unser demokratisches System im Kern zu akzeptieren.
Ralf Dahrendorf bezeichnete Demokratie sogar als „institutionalisierten Streit.“ Gesellschaftlicher Fortschritt kann nur entstehen, wenn um die Lösung schwieriger Fragen konstruktiv gestritten wird. Konflikte sind in einer freien Gesellschaft unvermeidbar.
Deshalb müssen wir streiten.
Streiten aber ist eine Sozialkompetenz. Die muss man lernen, trainieren, praktizieren. Direkter Dialog zwischen Bürger*innen und Politiker*innen ist da ein ganz wesentliches Handlungsfeld. Das fehlt uns momentan in Zeiten der Pandemie. Und das merken wir.
Doch es fehlt uns in Deutschland auch strukturell. In vielen Kindergärten gilt Streit als etwas, was vermieden werden muss. In der Schule lernen wir nicht, zu streiten, sondern kritiklos Leistung zu liefern (oder wenigsten zu simulieren). Im Berufsleben ist Streit ein Karrierekiller. Und selbst in Formaten der Bürgerbeteiligung wird viel zu oft versucht, Streit zu vermeiden. Dabei wäre genau hier die Chance, Streitkultur zu praktizieren.
Von manch Verantwortlichem werden Beteiligungsprozesse dann als besonders erfolgreich betrachtet, wenn es keinen Streit gab. Das ist schade.
Denn im Dahrendorfschen Sinne müssen wir aktuell die Diagnose stellen: Wir streiten zu wenig.
Im Umkehrschluss heiß das: Wer politische Prozesse konzipiert, organisiert, moderiert, der muss sich über einen Streit grundsätzlich erst einmal freuen und daran arbeiten, ihn in einen Diskurs zu überführen statt ihn wegzumoderieren.
Da Streitkultur aber eine relativ anspruchsvolle Kulturtechnik ist, ist Streit auch immer wieder von Verunglimpfungen, Unsachlichkeit und Verletzungen begleitet. Verständlich, dass man diese Begleiterscheinungen schmerzhaft findet. Aber was für Sportler gilt, gilt auch für Demokraten:
Ganz ohne Schmerzen geht es nicht.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer