Ausgabe #224 | 18. April 2024
Manche begreifen es nie
Im Grunde hatte die Verwaltung alles richtig gemacht. Die Beteiligten waren klug ausgewählt. Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen, sogar Familien mit noch nicht schulpflichtigen Kindern waren eingeladen.
Thema des Beteiligungsprozesses in einer niedersächsischen Gemeinde sollte die Sicherheit an den Schulen sein. Gewalt, Mobbing und die Sachbeschädigung an Schulgebäuden hatten zugenommen.
Darüber wollte man gemeinsam sprechen. Und um alle auf den gleichen Informationsstand zu bringen, gab es zuerst eine Präsentation des Ordnungsamtes. Dann die aktuelle Polizeistatistik. Die aktuell gültige Schulordnung wurde verteilt, eine Studie zur Jugendkriminalität vorgestellt.
Engagierte Elternvertreter*innen stellten intensiv Fragen, zwischen den Vertreter*innen von Schul- und Ordnungsamt entbrannte eine erregte Debatte über die Zuständigkeiten.
Die Debatte blieb wertschätzend, die Moderation war souverän und sorgte dafür, dass jede*r, der oder die wollte, sich auch einbringen konnte.
Und doch stieg die Unruhe im Schülerblock. Sich knapp zwei Stunden anzuhören, wie rüde die heutige Jugend sei und wer nun genau welche Maßnahmen dagegen ergreifen dürfe, solle oder müsse, war für einige der jungen Menschen schwer erträglich. Die einen konzentrierten sich aufs Handy, andere unterhielten sich laut, ein paar gingen einfach.
Und als dann der Fraktionsvorsitzende einer eher konservativen Partei aufstand, um mehr Polizeipräsenz auf dem Schulhof zu fordern, führte das nicht nur zu Buhrufen.
Kartoffelchips flogen. Der Kommunalpolitiker hielt verbal dagegen.
Die Situation eskalierte, am Ende musste die Moderation den Abend abbrechen.
Der Kommunalpolitiker verabschiedete sich vom Rektor schließlich mit den Worten:
„Wir haben’s ja im Guten versucht. Aber manche begreifen es offensichtlich nie“.
Das kann natürlich sein.
Es kann aber auch daran liegen, das mit einer (angestrebten) großen Breite in der Beteiligung auch die methodischen Herausforderungen steigen.
Frontale Druckbetankung funktioniert im Grunde nie wirklich gut. Unser Schulsystem zeigt dies Tag für Tag aufs Neue.
Wenn dann die Inhalte noch besonders komplex, irritierend oder gar kritisierend sind, wird es noch schwieriger.
Deshalb ist es sinnvoll, bei der Planung von Beteiligungsprozessen nicht nur das Thema im Fokus zu haben, sondern vor allem die Menschen, die sich voraussichtlich damit beschäftigen sollen.
Vor allem müssen die Beteiligten, ihre Kompetenzen und ihre Kultur die Wahl der Methoden (mit-)bestimmen. Auch und gerade, wenn es um inhaltlichen Input geht.
Akademiker*innen können mit deutschsprachigen Studien und seitenlangen Präsentation mehr anfangen als Migrant*innen, die die deutsche Sprache gerade lernen. Ältere Menschen haben tendenziell mehr Geduld als jüngere.
Und Schüler*innen haben in Beteiligungsprozessen nicht wirklich Interesse an unterrichtsähnlichen Settings. Jugendliche lernen ohnehin völlig anders als Erwachsene.
Dazu kommen unterschiedliche Denk- und Lerncharaktere.
Manche müssen etwas betrachten, um es zu begreifen.
Manche müssen es beschreiben, um zu begreifen.
Andere müssen es begreifen, um zu begreifen.
Also anfassen, herumschieben, bauen oder zerlegen. Der Spielzeughersteller LEGO hat das als Geschäftsmodell entdeckt und bietet seine hochpreisigen Plastikteile nun noch hochpreisiger im Rahmen seines SERIOUS PLAY Konzeptes für Seminare und Co-Creation-Prozesse an. Teilweise werden die Methoden auch schon in Beteiligungsprozessen eingesetzt.
Einen anderen Zugang, mit wesentlich günstigerer Hardware, hat das studio formagora in Münster entwickelt.
Die drei Gründer*innen Nick, Esra und Finn durfte ich erst im vergangenen Monat als Mitglied der Jury des Hans Sauer Preises für ihr innovatives Beteiligungskonzept auszeichnen. In der kommenden Woche bieten sie in Köln im Rahmen der Jahrestagung der Allianz Vielfältige Demokratie einen Workshop dazu an.
Ihren Ansatz beschreiben die drei so: „In unseren Workshops setzen wir auf Mitbestimmung, Teilhabe und Empowerment. Der öffentliche Raum, Begegnung und Handwerk sind dabei Kernelemente unserer Arbeit.“
Ihnen geht es darum, das haptische Begreifen in den Fokus der Partizipation zu rücken.
Vor allem gestalten sie partizipativ Räume und Produkte mit so vielen Beteiligten wie möglich.
Das können Orte und Plätze im öffentlichen Raum sein sowie gemeinschaftlich genutzte Räume oder Objekte in Schulen, Vereinen oder Unternehmen. Eine gemeinsame Umsetzung ist dabei immer Bestandteil dieses Prozesses.
Im Grunde holen sie das Handwerk in die Partizipation. Und damit vor allem auch junge Menschen. Aber auch andere Gruppen, die einen manuellen, begreifenden, gestaltenden Zugang zu Beteiligung zu schätzen wissen.
studio formagora plant und baut gemeinsam mit Schüler*innen aus gebrauchtem Material Möbel für ein „grünes Klassenzimmer“, führt handwerkliche Planspiel-Workshops durch, entwickelt partizipativ „glokale Lernstationen“ und gestaltet mit Schüler*innen in Schulen wertschätzende, inklusive Lernumfelder.
Ob neues Lego oder alte Latten: Es ist letztlich nicht das Material, auf das es ankommt, sondern der Zugang zum Beteiligungsgegenstand über Hände, Augen und alle anderen Sinne.
Beteiligung muss längst nicht mehr in einem Sitzungssaal mit Festbestuhlung stattfinden. Je mehr Bewegung es gibt, je mehr angefasst, aufgebaut und auseinandergenommen werden kann, desto breiter kann die breite Beteiligung wirklich werden.
Denn breite Beteiligung ist mehr als ein breiter Teilnehmendenkreis. Sie fängt mit diesem Kreis erst an. Und ist nur dann breit, wenn möglichst viele Anwesende auch zu Mitgestaltenden werden.