Ausgabe #228 | 16. Mai 2024
Die Demokratieretter
Heute Morgen hatte ich eine E-Mail in meinem Postfach. Sie war freundlich formuliert. Aber unmissverständlich. Ich sollte jetzt endlich „aufstehn“ und gemeinsam mit den Absender*innen „die Demokratie retten“.
Wer mich kennt, weiß, dass die Demokratie mir nicht egal ist. Wer mich gut kennt, weiß, dass ich vor der ersten Tasse Kaffee am Tag nur sehr eingeschränkt handlungsfähig bin..
Wer mir solche Mails nachts um 4:30 Uhr ins Postfach kippt, kennt mich also vermutlich nicht gut, sondern gar nicht.
Spam bleibt Spam, auch wenn es für einen vermeintlich guten Zweck ist. Was auch hier der Fall war. Vom Absender hatte ich noch nie etwas gehört, er hatte meine E-Mail-Adresse wohl irgendwo eingesammelt.
Dieses „noch nie etwas gehört“ ist jedoch ein Phänomen, das gerade in Sachen Demokratie an Dynamik gewinnt. Im Schnitt bekomme ich seit Wochen täglich mehr als eine E-Mail von Initiativen, die die Demokratie retten wollen, und dabei bisweilen klingen wie klassische Agitprop.
Die meisten davon sind neu, kürzlich erst entstanden, oft von jungen akademisch geprägten Menschen.
Ob „Starke Demokratie!“, „Demokratie. Retten. Jetzt“, „Demokratie am Zug“, „Projektgruppe Demokratieretter*innen“, „DEMOKRATIE UPDATE“ oder die „Demokratieverstärker:innen“ – die Kreativität der Namensgebung toppt sogar die für schräge Namensfindung bekannte Friseurbranche.
Einerseits ist es schön, zu sehen, dass viele Menschen sich Sorgen um unsere Demokratie machen. Sich engagieren wollen. Initiative ergreifen. Das ist gut. Ohne Zweifel.
Andererseits ist ein Phänomen, das nur einen erstaunlich homogenen kleinen Teil unserer Bevölkerung umfasst. Und sich deshalb trotz hoch kreativer Namensvielfalt fast immer in gleichen oder zumindest sehr ähnlichen Aktivitäten erschöpft. Zeit, diese Entwicklung einmal kritisch zu beleuchten.
Da ist zum einen die Haltung. Die Ansprache vieler dieser Initiativen kommt nicht nur dem einen oder anderen Demokratie-Aktivisten mit langjähriger Engagementgeschichte seltsam vor.
Sie ist von hohem Sendungsbewusstsein geprägt, davon, den allein richtigen Weg erkannt zu haben, dem nun alle anderen folgen sollen – dann würde es schon gut.
Diese Haltung ist nicht undemokratisch. Den demokratischen Geist ganz durchdrungen hat sie aber auch nicht.
Der Politikwissenschaftler Veith Selk hat in seinem neuen Buch „Demokratiedämmerung“ diese Akteur*innen kritisch in den Blick genommen. Er spricht bei dieser Gruppe von einer „Partizipationsaristokratie“:
„Diese besteht aus akademisch ausgebildeten, sozioökonomisch bessergestellten Bürgergruppen, die nicht nur versiert im Umgang mit den partizipativen Governance-Arrangements sind und übermäßigen politischen Einfluss haben, sondern auch das Selbstbild eines Bürger pflegen, der besser ist, als die normale Wahlbürgerschaft.“
Böse Zungen könnten behaupten, dass seien „die, vor denen uns die AfD immer gewarnt hat“.
Und tatsächlich ist oft zu beobachten, dass es nicht nur politisch, sondern kulturell, intellektuell und sprachlich so gut wie keine Links zwischen dieser speziellen Form von Aktivismus und jenen Teilen der Bevölkerung gibt, die bereit sind, eben jene Demokratieverächter*innen in und um die AfD zu wählen.
Dies dokumentiert sich auch ganz praktisch in den Aktivitäten und Formaten dieser zahlreichen Initiativen.
Denn während die Namensvielfalt beeindruckt, überzeugt die Aktionsvielfalt eher nicht.
Das Aktivitätsportfolio ist schmal. Häufig geht es um Unterschriften unter Aufrufe, Statements, offene Briefe oder um Geldspenden. Dazu kommen Mahnwachen und Demos. Und Forderungen, was andere (Staat, Verfassungsschutz, Schulen) tun sollen.
Dialoge? Sind eher weniger im Fokus. Maximal noch in losbasierten Formaten. Oder in der Forderung nach solchen.
Mit Ausgelosten oder Ausgewählten oder der eigenen Blase über Demokratie zu reden, ist gut. Wird sie aber nicht retten.
Auch Nazis als Nazis zu beschimpfen, ist eine zwar beliebte aber weitgehend wirkungslose Übung.
Das, was die Republik jetzt braucht, sind Dialoge. Schwierige Dialoge. Konfliktgetriebene Dialoge. Zu unangenehmen Themen. Vor allem aber: genau mit jenen Menschen, die der Demokratie aktuell nicht mehr viel abgewinnen können.
Nicht einzelne Dialoge, sondern massenhafte Dialoge. Ohne Belehrungen durch „Partizipationsaristokrat*innen“. Ohne jene, die „falsch“ wählen, als Bekehrungsobjekt zu definieren.
Aktuell gibt es ein Format, das genau jene Menschen adressiert. Und in vielen deutschen Kommunen viele Menschen anzieht.
Paradoxerweise sind es die sogenannten „Bürgerdialoge“ der AfD. Gerne beworben mit dem Claim „So geht Demokratie.“
So geht sie natürlich nicht. So geht Spaltung.
Doch das gilt für beide Fälle: Wenn einzelne Blasen interne Dialoge organisieren, fördert das eher Spaltung als Demokratie.
Was wir brauchen, sind Dialoge über Blasen hinweg, ohne didaktische oder missionarische Attitüde. Eine (bessere) Neuauflage von Emanuel Macrons Grand Débat National aus dem Jahr 2019.
Die war zwar mehr Konsultation als Dialog, hatte aber schon dialogische Elemente. Und genau an diesen Stellen war sie auch erfolgreich – wo die Konsultation zum Dialog wurde.
In exakt einer Woche feiern wir 75 Jahre Grundgesetz. Das macht Mut. Wenn wir weitere 75 Jahre Demokratie erleben wollen, werden wir eine Menge Mut brauchen.
Mut zu mehr als ein paar Bürgerräten, Verfassungsschutzberichten und schärferen Strafen für Übergriffe auf Politiker*innen. All das brauchen wir.
All das wird aber nichts nützen, wenn wir nicht miteinander reden. Und miteinander meint: mit allen. Ganz besonders mit jenen, deren Meinung wir nicht teilen.
75 Jahre Grundgesetz wäre der ideale Start für einen Demokratie-Dialog in jedem Ort, jeder Stadt, jeder Schule, jedem Verein und jedem Unternehmen.
Eine naive Idee? Vermutlich.
Haben Sie eine bessere? Dann her damit!
Es mag sein, dass einige Begriffe bzw. Formate bereits verbrannt sind. Zum Teil bevor sich jemand erfolgreich bemühen konnte, Veranstaltungen unter diesen Überschriften zu organisieren. Dies trifft in meinem Umfeld vor allem für Bürgerräte aber auch für losbasierte Beiräte oder den deliberativen Ansatz überhaupt zu. In Erfurt ist letzterer wohl für eine längere Zeit ins Krankenhaus eingewiesen, wenn nicht gar begraben worden.
Die Idee mit jedem zu reden verfolge ich, selbst wenn in meiner „Blase“ häufig die verständliche Meinung aufkommt, gerade in Thüringen mit ausgewählten Leuten besser nicht mehr zu sprechen.
Ich versuche es jetzt auf Stadtteilebene. Der Ansatz ist eigentlich ein Bürgerdialog, wenn er denn funktioniert. Es geht auch in der Ansprache relativ unradikal um Belebung (nicht um Rettung) der Demokratie und im Untertitel um einen „zivilgesellschaftlichen“ Versuch.
Wir sehen uns sicher am 24.6., wenn es die Netzabdeckung auf Rügen zulässt. Halt nur als „Briefmarke“.