#229 | Wie gründlich ist das Grundgesetz?

Das „Grund“ im Grundgesetz kommt nicht von gründlich. Und dafür gibt es gute Gründe.

Ausgabe #229 | 23. Mai 2024

Wie gründlich ist das Grundgesetz?

Am 23. Mai 1949, also genau heute vor 75 Jahren, wurde in einer feierlichen Sitzung des Parlamentarischen Rates das Grundgesetz verkündet.

Es ist eine Erfolgsgeschichte.

Dabei ist seine Entstehung von vielen Merkwürdigkeiten geprägt.

Sie begann mit einem sogenannten „Verfassungskonvent“ auf Herrenchiemsee, bei dem die Besatzungsmächte vor allem Verwaltungsbeamte der einzelnen Länder erwarteten.

Parteipolitik sollte außen vor bleiben. Die Länder aber schickten überwiegend Politiker (und quasi keine Politikerinnen).

Dort einigte man sich auf einige Grundprinzipien (schwaches Staatsoberhaupt, starke Bundesregierung, keine Direktdemokratie), geprägt vor allem von den schlechten Erfahrungen der Nazidiktatur.

Die eigentliche Entwicklung des Grundgesetzes wurde dann einem „Parlamentarischen Rat“ übertragen.

Der bestand fast nur aus Männern, aber immerhin vier Frauen. Die Sozialdemokratin Elisabeth Selbert zum Beispiel wurde dabei nicht von ihrem eigenen hessischen Landesverband nominiert, sondern „schmuggelte“ sich über die Genoss*innen aus Niedersachsen rein.

Dort war sie zunächst die Einzige, die sich für die Gleichberechtigung der Geschlechter im Grundgesetz engagierte. Anfangs (laut Protokoll) häufig ausgelacht, gewann sie nach und nach mit Argumenten, aber auch Öffentlichkeitsarbeit, mehr und mehr Rückhalt.

Am Ende siegte sie.

Den kurzen, aber grundlegenden Satz „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ hätte es ohne sie so nie gegeben.

Am Ende entstand eine Verfassung, die inhaltlich und in den Formulierungen zwischen genialen Highlights und erstaunlicher Wurschtigkeit schwankt.

So ist zwar der Satz zur Gleichberechtigung unmissverständlich. Jedoch der Umgang mit Religion zum Beispiel weniger.

Die freie Ausübung der Religion wurde zwar festgeschrieben (Art. 4), keine Staatskirche benannt. Doch schon der erste Satz der Präambel beginnt allerdings mit

„Im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen …“.

Worauf sich heute jene beziehen, die zum Beispiel den Islam und andere Religionen als „nicht zu Deutschland gehörend“ betrachten.

Interessant ist auch, dass unsere Verfassung anders als die vieler anderer Staaten keine Amtssprache benennt.

Übrigens auch keine Wirtschaftsform. Die Marktwirtschaft, heute gern als Bestandteil der „freiheitlich-demokratischen Grundordnung“ betrachtet, kommt im Grundgesetz nicht vor.

Wohl aber die Möglichkeit zu Enteignungen (Art. 14).

Es ist erstaunlich, was das Grundgesetz im Gegensatz zu anderen Verfassungen alles nicht explizit regelt. Das „Grund“ im Grundgesetz kommt sicher nicht von gründlich. Es steht eher für grundlegend.

Einige dieser grundlegenden Regelungen waren durchaus bis zuletzt umstritten. Und die Akzeptanz in der Bevölkerung, aber auch bei den alten und neuen Eliten nicht garantiert.

Am Ende wurde es dann gegen die Stimmen der CSU, der Zentrumspartei, der Deutschen Partei und der KPD mehrheitlich beschlossen.

Von den Besatzungsmächten wurde es genehmigt.

Vom Volk allerdings nicht bestätigt.

Die Angst vor der direkten Demokratie saß zu tief.

Zustimmen sollten noch die Landesparlamente. Die Bayern taten das nicht.

Und so war am 23. Mai 1949 alles andere als sicher, ob die neue Bundesrepublik Deutschland eine solide Grundlage für eine positive Entwicklung hatte.

Ein erstes, positives Signal war, dass alle Mitglieder des Parlamentarischen Rates, auch jene, die gegen das Gesetz gestimmt hatten, es schließlich mit unterzeichneten. Nur die beiden Abgeordneten der KPD verzichteten.

Heute können wir feststellen: Es hat funktioniert.

Und das erstaunlich gut. 75 Jahre politische Stabilität sind in der deutschen Geschichte keine Selbstverständlichkeit.

Es gibt also durchaus etwas zu feiern.

Allerdings auch etwas zu verteidigen. Denn das Grundgesetz hat 75 Jahre nach dem Start nicht nur Freunde.

Ein Grund dafür, dass sich viele Menschen gerade Gedanken darüber machen, ob es einer Runderneuerung bedarf.

In der Praxis hat sich unsere Demokratie in 75 Jahren durchaus weiterentwickelt. Dort, wo es Direktdemokratie auf Landes- oder kommunaler Ebene gibt, sind die Erfahrungen fast durchweg positiv.

Dazu hat sich neben der repräsentativen und direktdemokratischen Säule die dritte, dialogische Säule der politischen Teilhabe stürmisch entwickelt.

Die aber findet im Grundgesetz so gar nicht statt.

Das kennt neben den Wahlen eigentlich nur noch die Petition, die allerdings eher als „Bittschrift“, denn als demokratische Wirksamkeit konzipiert ist.

Bis heute ist das Grundgesetz geprägt von der Fokussierung auf die repräsentative Demokratie. Selbst Regierungschef und Staatoberhaupt werden nur mittelbar gewählt.

Insbesondere die dialogische Säule findet konzeptionell im Grundgesetz nicht statt.

Eine Schwäche des Grundgesetzes?

Eher eine Stärke.

Denn offensichtlich entwickelt sich die Bürgerbeteiligung in vielen Facetten dynamisch weiter.

Unser Grundgesetz mit seinem Primat des Grundlegenden vor dem Gründlichen lässt genau dies zu:

eine den gesellschaftlichen Gegebenheiten entsprechende Weiterentwicklung der Demokratie.

So wie die Marktwirtschaft oder die Amtssprache nicht im Grundgesetz definiert ist, so ist es eben auch nicht die Bürgerbeteiligung.

Es braucht auch keine konkrete Festlegung, wie sich der eine, zentrale Satz im demokratischen Alltag manifestiert:

„Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus.“ (Art. 20).

Wir brauchen keine Grundgesetzänderung, um mehr, öfter, tiefer und wirksamer zu beteiligen.

Wir könnten im Grundgesetz die drei Säulen der vielfältigen Demokratie explizit manifestieren. Doch das sollte besser erst geschehen, wenn Zeit und Gesellschaft reif dafür sind.

Ob es schon soweit ist, darüber lässt sich streiten.

Eines jedoch ist sicher: Je mehr dialogische politische Teilhabe wir praktizieren, desto besser für den besagten Reifegrad.

Und da ist – auch im Rahmen des aktuellen Grundgesetzes – noch gewaltig Raum für Entwicklung vorhanden.

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