#239 | Ganz oder gar nicht

Holismus ist die Vorstellung, dass Systeme als Ganzes und nicht nur als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind. Was aber ist holistische Beteiligung?

Ausgabe #239 | 1. August 2024

Ganz oder gar nicht

Das mit dem Glauben ist so eine Sache.

Menschen glauben vor allem deshalb an Götter, Mythen oder Verschwörungserzählungen, um sich das Leben irgendwie leichter zu machen. So eine gängige Vermutung.

Der Autor eines Buches aus dem Jahr 1987 erzählt da eine ganz andere Geschichte:

Auf einem weit entfernten Planeten arbeitet sich ein humanoider Roboter durch eine unsinnige Glaubensvorstellung nach der anderen.

Er hat dabei eine irritierende Aufgabe: Dinge zu glauben ¬– um so anderen Leuten die Mühe zu ersparen, es selbst zu tun.

Klingt verrückt?

Es wird noch schriller.

Zu Beginn des Buches glaubt er, dass seine Umgebung blassrosa sei und dass eine gewöhnliche weiße Tür in eine fremde neue Welt führen würde.

Sein Name: Der elektrische Mönch.

Vorgestellt wird er, ebenso wie andere Protagonist*innen, in zusammenhanglosen Szenen zu Beginn eines Buches mit demselben Titel.

Das Buch stammt von Douglas Adams. Ein legendärer Autor, bekannt vor allem für seine Romanreihe „Per Anhalter durch die Galaxis“.

Der elektrische Mönch wurde ebenfalls zur Legende, blieb aber immer umstritten. Denn das Buch liest sich lange wie ein belletristischer LSD-Trip. Eine schrille unverständliche Szene folgte der anderen.

Zusammenhänge? Fehlanzeige.

Doch das täuscht.

Nach und nach werden die Zusammenhänge zwischen Personen und Erlebnissen aufgedeckt. Erst am Ende zeigt sich, dass jede Nebenhandlung für die Gesamtlogik der Handlung nötig war.

Darunter auch die Geschichte von Svlad Cjell, einem Trickbetrüger und Kleingauner. Der ändert im Lauf der Geschichte, oder der Vorgeschichte, oder einer Nebengeschichte, nicht nur seinen Namen. Er gründet auch ein Detektivbüro.

Dirk Gentlys „Holistische Detektei“ ist auch vielen Menschen bekannt, die den Roman nie gelesen haben. Die BBC hat ihr eine eigene Serie spendiert, die sensationelle Kritiken enthielt und in Deutschland bei Netflix zu sehen ist.

Dieser Dirk Gently behauptet in Buch und Serie, die grundlegende Verbundenheit aller Dinge auszunutzen, um jeden denkbaren Fall zu lösen.

Erstaunlicherweise gelingt ihm das auch.

Sein holistischer Ansatz ist dabei ebenso ungewöhnlich wie spannend.

Holismus ist die Vorstellung, dass Systeme als Ganzes und nicht nur als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind. Im Deutschen wird dabei oft der Begriff „ganzheitlich“ verwendet.

Wir kennen zum Beispiel die Idee der ganzheitlichen Medizin. Dort gibt es durchaus Erfolgsgeschichten, aber auch Scharlatane. Und manchmal weiß man – wie bei Dirk Gently – nicht, ob das System oder Betrug ist. Oder systematischer Betrug.

Die Bezeichnung „Holismus“ geht auf Jan Christiaan Smuts zurück, der sie in seinem 1926 erschienenen Buch „Holism and Evolution“ bekannt machte.

In den Sozialwissenschaften ist Holismus besonders hilfreich, wenn komplexe soziale Strukturen wie Institutionen, Kulturen, demokratische Systeme untersucht werden.

Die sind nämlich als bloße Summe von Regeln, Prozessen und individuellem Verhalten nicht wirklich in Gänze erfassbar.

Das macht den holistischen Ansatz auch spannend für Prozesse der demokratischen Teilhabe.

Ob Leitlinien für Beteiligung, Beiräte, Fachstellen, standardisierte Methoden und Formate, spezielle Rekrutierungsverfahren mit oder ohne Zufallskomponenten:

Gute Beteiligung ist stets mehr als nur die Summe einzelner Bausteine.

Die sensationelle Vielfalt kommunaler Beteiligung belegt dies. In der ersten Stadt gibt es Leitlinien, in der zweiten einen Beteiligungsbeirat. In der dritten beides – in der vierten keines von beiden.

Welche der vier Kommunen beteiligt besser?

Das lässt sich ohne einen Blick auf die Praxis nicht wirklich sagen.

Beteiligung ist nicht Prozess, sondern Kultur. Da spielen Haltungen der Beteiliger und der Beteiligten eine Rolle. Ebenso Erwartungen, Erfahrungen, Kompetenzen.

Gleiches gilt für die Formate. Ein Bürgerrat ist nicht deshalb gut, weil er Bürgerrat heißt. Das betrifft auch Planungszellen, Barcamps oder Bürgergutachten. Wer da von wem mit welcher Haltung beteiligt wird, welche Ergebnisse von wem wie verarbeitet werden – all das spielt eine Rolle.

Es ist „die Verbundenheit der Dinge“, würde Dirk Gently sagen.

Was heißt das aber nun für die Beteiligungspraxis?

Vor allem mahnt es uns, Prozesse immer lernfähig zu gestalten. Abläufe, Methoden und Formate können und müssen zu einem überlegten Konzept zusammengebaut werden.

Ob es dann aber in der Praxis mit den konkreten Beteiligten und Bedingungen auch tatsächlich optimal funktioniert, kann man vorher glauben. Aber nicht wissen.

Deshalb sind Modifikationen im Prozess ein Zeichen für Qualität.

Gutes Beteiligungsdesign ist immer auch holistisch. Nicht beliebig. Aber eben offen für Veränderungen und Entwicklungen.

Das gilt auch für ein zweites Handlungsfeld in der Beteiligung: Die Evaluation.

Evaluation, die nur Zahlen misst und Grafiken baut, nutzt in der Beteiligung wenig.

Das Evaluationsverfahren des Berlin Institut für Partizipation misst zum Beispiel 84 Indikatoren.

Aber es prüft eben bei jedem Indikator nicht ab, ob etwas auf eine ganz bestimmte Art gemacht wird, sondern ob ein bestimmtes Qualitätsmerkmal sichergestellt wird.

Ob also eine Kommune zum Beispiel Leitlinien und/oder einen Beteiligungsbeirat hat, fließt in die Evaluation ein. Es ist aber kein Kriterium für „gute“ oder „schlechte“ Beteiligung.

Betrachtet wird, welche Aufgabe diese Strukturen haben, wie sie wirken sollen, wie sie wirklich wirken, wie sie zusammenspielen. Oder ob bestimmte Ziele wie Qualitätssicherung möglicherweise auf eine ganz andere Art sichergestellt werden.

Holismus ist bei der Planung und der Evaluation von Beteiligung letztlich weniger eine Methode als eine Haltung.

Und deshalb ist das Buch von Isaac Asimov und/oder die BBC Serie eine klare Empfehlung für alle Menschen, die sich mit Beteiligung beschäftigen.

Und was das chaotische Nebeneinander, Nacheinander, Gegeneinander und Übereinander von Motiven und Handlungssträngen betrifft:

Ähnlichkeiten mit realen Beteiligungsprozessen sind rein zufällig.

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1 Kommentar
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Martin Müller Lebenswerke GmbH
1. August 2024 15:23

Dieser Beitrag gefällt mir diesmal besonders gut, lieber Jörg. Erleben wir nicht quasi täglich in unserer Arbeit, ob „das da mit der Beteiligung“ auch unserer Haltung entspricht.?
Die 10 Grundsätze von Beteiligung, gemeinsam in der Allianz für Vielfältige Demokratie erarbeitet, bildet für unsere Arbeit, für mich stets eine gute Grundlage.
Für mich ist HALTUNG die „Verbundenheit der Dinge“ in Achtsamkeit und Respekt.
Im Fachverband Bürgerbeteiligung e.V. diskutieren wir genau solche Dinge mit der Prämisse ins Handeln zu kommen. http://www.fvbb.info
War mir gerade ein Bedürfnis…, jetzt schaffe ich weiter…

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