Ausgabe #240 | 8. August 2024
Klüger wählen
Es waren milde 22 Grad an diesen Nachmittag. Gemeinsam mit Beteiligungsprofis aus vielen Teilen Deutschlands genoss ich unseren Pausen-Kaffee.
Wir ahnten noch nichts.
Mitten auf den historischen Marktplatz einer sächsischen Stadt saßen wir im Schatten eines großen Sonnenschirms und diskutierten darüber, wie mehr Beteiligung die Demokratie stärken könne.
Über 120 Teilnehmer*innen waren zur Jahrestagung der Allianz Vielfältige Demokratie gekommen. Zwei Tage lang drehte sich alles um gute Bürgerbeteiligung in unterschiedlichen Formen.
Dutzende Menschen aus Wissenschaft und Praxis hielten Vorträge. Mitglieder der Sächsischen Landesregierung diskutierten mit. Sogar der Ministerpräsident nahm mehrere Stunden an den Debatten teil. Der örtliche Oberbürgermeister berichtete von seinem erfolgreichen Widerstand gegen Querdenker-Demos.
Es war der Juni 2023. Die Stadt hieß Pirna.
Nicht einmal 10 Monate später sollte sie den ersten für die AfD gewählten Oberbürgermeister Deutschlands haben.
Für manche ist dies bis heute einer der zentralen Kipppunkte unserer Demokratie. Erstmals wurde schmerzhaft sichtbar, dass die „demokratische Abwahl der Demokratie“ kein theoretisches Konstrukt ist.
Besonders gab es all jenen zu denken, die sich im Bereich der politischen Teilhabe engagieren.
In Sachsen wird von der schwarz-rot-grünen Landesregierung viel für gute Beteiligung getan. Bleibt das alles wirkungslos? Ist Bürgerbeteiligung keine wirksame Antwort auf autoritäre Entwicklungen?
Schaut man auf Pirna, könnte man das glauben.
Auf den ersten Blick.
Auf den zweiten Blick relativiert sich Vieles.
Der beliebte Oberbürgermeister trat nicht mehr an. Der Kandidat der AfD segelte offiziell unter dem Ticket des „Parteilosen“. Die Kandidaten der demokratischen Parteien waren wenig attraktiv und standen sich auch im zweiten Wahlgang noch gegenseitig im Weg.
Am Ende waren es genau 6.542 Stimmen bei knapp 40.000 Einwohnern, die zum Sieg reichten.
Bei einer Wahlbeteiligung von knapp über 50% genügten so letztlich die Stimmen von rund 15% der Menschen für den AfD Erfolg.
Es wäre sicher keine gute Idee, sich das Ergebnis so nachträglich schön zu reden. Die Bedrohung der Demokratie ist gerade angesichts der kommenden Landtagswahlen in Sachsen und anderen ostdeutschen Bundesländern durchaus real.
Doch aus den Ergebnissen in Pirna zu schließen, dass Bürgerbeteiligung keinen positiven Einfluss hätte – das wäre genauso unangebracht.
Denn ein intensiverer Blick zeigt rasch: So richtig viel Bürgerbeteiligung hat es in Pirna in den Jahren zuvor gar nicht gegeben.
Demokratische Akteure hatten sich zwar früh, mutig und klar positioniert. Verwaltungsspitze, Kulturschaffende, Kirchen und zivilgesellschaftliche Akteure zeigten Präsenz. Demos, Kundgebungen, Mahnwachen und ganz bewusst zelebrierte Christopher Street Days sorgten für Sichtbarkeit.
Was jedoch kaum gelang: Zahlreiche Menschen unterschiedlicher Milieus und Einstellungen in einen wertschätzenden Dialog zu bringen.
Also genau das, was gute Bürgerbeteiligung ausmacht.
Es wäre vermessen, diese Feststellung als Vorwurf gerade an die engagierten Demokratinnen und Demokraten in Pirna und Sachsen zu formulieren. Viele von ihnen riskieren täglich viel, um die Demokratie zu schützen.
Doch das Beispiel Pirna zeigt: Klare Kante der Demokrat*innen allein reicht nicht aus.
Am Ende ist entscheidend, welche Alternativen bei Wahlen angeboten werden, ob und wie sich die Demokrat*innen gemeinsam positionieren, ob die Menschen eher auf Denkzettel oder Demokratie setzen – und ob genügend Menschen überhaupt noch bereit sind, sich mit einer demokratischen Stimme an demokratischen Wahlen zu beteiligen.
Gute Bürgerbeteiligung kann, soll und darf keine Wahlen ersetzen. Sie kann sie aber durchaus im demokratischen Sinne qualifizieren.
Die eine große Studie, die den Zusammenhang zwischen Beteiligung und Wahlverhalten untersucht, gibt es bislang nicht. Wir wissen aber aus vielen „kleinen“ Forschungsprojekten (ein Beispiel) und Evaluationen, dass es Wechselwirkungen gibt.
Gute Bürgerbeteiligung, soweit sie nicht nur Akzeptanz für bereits beschlossene Vorhaben schaffen soll, setzt auf Diskurs, auf Wertschätzung und auf Selbstwirksamkeit der Beteiligten.
Das sind gleich drei Faktoren, die demokratische Grundhaltung entwickeln und festigen können.
Immer wieder artikulieren Teilnehmende von guten Beteiligungsprozessen, dass sie dadurch erheblich mehr Verständnis für Prozesse, Institutionen und Akteure politischen Handels entwickelt hätten.
Zugleich erleben wir in Stadtteilen, in denen eine aktive Beteiligungskultur herrscht, häufig eine überproportionale Stabilität oder gar einen Anstieg der Wahlbeteiligung.
Ein Experiment im Rahmen der vergangenen Kommunalwahl in Baden-Württemberg führte dazu, dass eine der demokratischen Parteien nahezu die Hälfte ihre Kandidatinnen und Kandidaten durch eigene Formate der Bürgerbeteiligung gewinnen konnte.
Die Erwartung, dass umfangreiche und gute Bürgerbeteiligung aber mehr Menschen dazu bewegen kann, demokratisch zu wählen, ist nicht unbegründet.
Die größte Herausforderung dabei ist jedoch die Frage:
Wie erreichen wir die „Richtigen“?
Viele Prozesse beteiligen vor allem den ohnehin bereits engagierten Teil der Bevölkerung. Nichtwähler*innen sind bislang überwiegend auch Nichtbeteiligte.
Wenn unser Berlin Institut für Partizipation kommunale Beteiligungskultur evaluiert, gehört deshalb auch immer die Frage dazu, wie Nicht- und Noch-nicht-Wähler*innen erreicht werden, welche Angebote es für sie gibt und wie diese ausgestaltet sind.
Klar ist: Bürgerbeteiligung allein wird die Demokratie nicht retten. Aber sie kann dazu beitragen.
Wenn sie gut gemacht ist.
Wenn sie bewusst auch jene integriert, die bereits mit der Demokratie hadern.
Und wenn wir sie erheblich umfangreicher, öfter, breiter und tiefer organisieren.