Ausgabe #249 | 10. Oktober 2024
Gefährliche Wahlen?
Dabei waren sie sich so sicher. Eine perfekte Bürgerbeteiligung sollte es werden.
Nicht zu aufwändig. Ganz fair. Mit einem klaren Entscheidungsspielraum, klaren Optionen, niederschwelligem Zugang und echter Wirkung.
Ein Platz sollte neugestaltet werden. Mitten im Ort (den wir aus Gründen der Diskretion nicht verraten). Drei Entwürfe lagen vor. Alle drei wären technisch, rechtlich und finanziell realisierbar, sagte das zuständige Amt.
Und es konnte sich mit allen drei Ideen anfreunden.
Also setzten die Kollegen aus der Fachstelle für Beteiligung eine Online-Umfrage auf. Alle drei Varianten wurden wunderbar aufbereitet und vorgestellt. Alle Bürger*innen zur Abstimmung eingeladen.
Die erbrachte ein klares Ergebnis. Mit großem Abstand wurde eine ökologisch und sozial besonders attraktive Lösung gewählt.
Doch dann kamen die Kommunalpolitiker*innen ins Spiel. Im Verkehrsausschuss erhitzten sich die Gemüter. Die Fetzen flogen, wüste Beschimpfungen wurden verteilt. Und am Ende nicht der Favorit der Bürger*innen bestätigt, sondern mehrheitlich ein anderer Entwurf gewählt.
Und zwar jener, der die meisten Parkplätze zur Verfügung stellt.
Eine Abwägung am Ende. Und völlig legitim von den gewählten Politiker*innen getroffen.
Und so sind am Ende viele enttäuscht und frustriert: Die Politiker*innen, die aus inhaltlichen Gründen eine andere Lösung wünschten. Jene, die der Beteiligung zu Wirkung verhelfen wollten. Die Mitarbeiter der Fachstelle, die so stolz auf ihren Prozess waren.
Vor allem aber jene Bürger*innen, die sich beteiligt hatten.
War es also eine Bürgerbeteiligung, die mehr Schaden produzierte als Nutzen?
Nein.
Weil möglicherweise die daran Beteiligten daraus lernen können, was man alles besser machen könnte.
Vor allem aber aus einem anderen Grund:
Weil es gar keine Beteiligung war.
Denn Beteiligung definieren wir als „Dialog mit Wirkungsanspruch“. Nicht mit Wirkungsgarantie. Aber mit Anspruch.
Den Anspruch gab es. Er konnte am Ende nicht eingelöst werden.
Was es aber nicht gab: einen Dialog.
Es ist eben genau das, was Beteiligung von Direktdemokratie unterscheidet. Während letztere einen klaren Beschluss mit maximaler Legitimation fasst, geht es in der Beteiligung darum, einen Dialog zu führen. Vorzugsweise eben genau mit Menschen, die nicht dieselbe Meinung haben.
Beteiligung setzt auf die Qualität der Argumente, auf Erkenntnisgewinn und Meinungsbildung. Der Prozess muss am Ende nicht zwangsläufig zu einer Meinung führen, die alle teilen.
Aber es gibt ein Ergebnis, das die dafür legitimierten Gremien in die Lage versetzt, eine qualifiziertere Entscheidung zu fällen.
Das eine solche Entscheidung dann am Ende auch mal legitimiert, aber eben nicht besonders qualifiziert ist, das kann vorkommen. Das nennt sich Demokratie.
Das macht Beteiligung nicht unwichtig, begründet aber die Erwartung, dass sie gut geplant und durchgeführt wird. Dass sie Dialog ermöglicht und ergebnisorientiert moderiert. Dass sie auf unterschiedliche Sichtweisen setzt und nach Lösungen für Interessengegensätze sucht. Dass sie es sich schwer macht.
Und nicht leicht.
Den Dialog durch eine Abstimmung zu ersetzen, ist keine Beteiligung.
Und eine Abstimmung anzubieten, bei der die Ergebnisse keine Verbindlichkeit haben, ist auch keine Direktdemokratie.
Sie ist Russisches Roulette.
Kann gut gehen. Oder eben nicht.
Wenn es gut geht, ist dennoch wenig gewonnen. Denn ein Dialog hat ja nicht stattgefunden. Die Minderheit hatte keine Chance, ihrer Sichtweise überhaupt Gehör zu verschaffen, zu überzeugen, andere Argumente abzuwägen, sich vielleicht auch selbst überzeugen zu lassen.
Und wenn es nicht gut geht – dann wird eine Menge Porzellan zerschlagen wie in unserem Beispiel.
Beteiligung kann Politik beraten. Sie kann aber auch direktdemokratische Entscheidungen vorbereiten. Sie kann sie aber nicht ersetzen. Und umgekehrt eben auch nicht.
Direktdemokratie macht Sinn. Mehr Sinn, wenn sie dialogisch vorbereitet wird. Und gar keinen Sinn, wenn das Ergebnis anschließend ignoriert wird.
Mit einer Abstimmung verknüpfen die Menschen die Erwartung, dass sie eine Relevanz hat.
Immer.
Auch dann, wenn eine solche Entscheidung als „Bürgerbefragung“ aufgesetzt oder anderweitig tituliert wird.
Das ist auch der Grund, aus dem erfahrene Beteiliger*innen Abstimmungen in Beteiligungsprozessen wo immer möglich vermeiden.
Eben weil es darum geht, ein gemeinsames Verständnis davon zu bewahren, dass das Wesen von Beteiligung der Austausch von Argumenten ist. Nicht die Majorisierung von Minderheiten.
Die Faustregel lautet tatsächlich: Egal, ob es um die Sitzordnung oder die Pausenregelung geht, erst recht, wenn die Ergebnisse konsolidiert werden sollen, je weniger in Beteiligung abgestimmt wird, desto besser.
Wahlen in Beteiligungsprozessen sind nicht unmöglich. Aber gefährlich.
Weil sie Dialoge ersetzen könnten. Oder Konflikte verschärfen. Oder die Wahlverlierer*innen aus dem Prozess kegeln. Oder, und das tun sie fast immer, Erwartungen wecken, die am Ende nicht eingelöst werden können.
Nicht immer lässt sich jede Abstimmung in Beteiligungsprozessen vermeiden. Wir sollten sie aber immer als das begreifen, was sie sind. Systemfremd. Und gefährlich.
Wenn wir in einem Beteiligungsszenario abstimmen müssen, ist das immer ein ernsthafter Hinweis darauf, dass wir deliberativ nicht weiterkommen. Oder uns die Zeit dafür nicht leisten.
Doch das ist eben genau das, was gute Beteiligung begründet. Und was sie erfolgreich macht.
Für die Beteiliger in unserem eingangs geschilderten Beispiel lautete das Fazit für das nächste Mal übrigens:
Entweder vorher klären, dass das Ergebnis einer solchen Abstimmung verbindlich ist.
Oder einen echten dialogischen Prozess organisieren, der alle einbezieht – auch die späteren Entscheider*innen.
Und angesichts des Diskursdefizits in unserer Demokratie würde ich auf die zweite Variante setzen.