#262 | Dafür sind wir zu klein

In über einem Drittel der deutschen Kommunen leben unter 3.000 Menschen. Wie kann dort Bürgerbeteiligung funktionieren?

Ausgabe #262 | 9. Januar 2025

Dafür sind wir zu klein

Über eine Million Euro im Jahr stellt die Stadt Wien für Beteiligungsprozesse zur Verfügung.

In Berlin werden die bezirklichen Räume für Beteiligung mit je 250.000,- Euro pro Jahr ausgestattet.

In Paris bestimmen die Bürger*innen im Rahmen von Bürgerhaushaltsverfahren jährlich über rund 100 Millionen Euro ab.

Große Metropolen geben viel Geld für und mit Bürgerbeteiligung aus.

Viele Städte in Deutschland haben weniger, aber immer noch erhebliche finanzielle und personelle Ressourcen für Beteiligung reserviert.

Immer wieder werden „Leuchtturm-Projekte“ oder „Best-Practices“ aus diesen Städten in den Medien vorgestellt. Solche Beispiele können Mut machen.

Sie können aber auch frustrieren.

Denn die meisten Kommunen in Deutschland spielen in einer ganz anderen Liga.

Über 18.000 Kommunen gibt es in Deutschland. Nicht einmal 90 von Ihnen haben mehr als 100.000 Einwohner*innen. In über 90% der Kommunen leben unter 10.000 Menschen.

Viele von Ihnen haben knappe Kassen. Da sind Fachstellen für Beteiligung, Beiräte, komplexe Leitlinien und große Beteiligungsprozesse kein Thema.

Immer wieder höre ich bei lokalen Vorträgen, auf Konferenzen und in Online-Veranstaltungen wörtlich oder sinngemäß die Aussage:

„Für Bürgerbeteiligung sind wir viel zu klein.“

Die Haltung ist verständlich.

Aber eben eine Haltung. Keine Realität.

Über ein Drittel deutscher Kommunen beherbergt weniger als 3.000 Menschen. Deshalb sind längst nicht alle davon beteiligungsfreie Zonen.

So wie die Gemeinde Grünkraut in Baden-Württemberg. Schon der Name lässt vermuten, dass die Kommune eher überschaubar groß ist. Rund 3.000 Menschen leben dort. Verstreut in über 40 Weilern ganz weit im Süden der Republik.

Keine idealen Voraussetzungen für Beteiligungsprojekte, könnte man meinen. Und doch haben sie in Grünkraut ganz außergewöhnliche Dinge auf die Beine gestellt.

Begonnen hat die gute Bürgerbeteiligung in der kleinen Gemeinde so ähnlich, wie auch in manch großer Stadt:

Mit einem Konflikt.

Im Jahr 2018 wurde in der Gemeinde Grünkraut ein umfangreiches Seniorenkonzept erstellt.

In zentraler Lage sollte ein Seniorenzentrum mit Tagespflege, Kurzzeitpflege, stationären Pflegeplätzen und betreuten Wohnungen errichtet werden.

Doch ein Bürgerentscheid soppte die Pläne.

Der Bau eines Seniorenzentrum in der Ortsmitte wurde knapp abgelehnt.

Der Frust war groß. Die Lernkurve steil. Statt die Pläne zu beenden, wurde größer gedacht.

Und partizipativer.

Der Gemeinderat beschloss, einen Gemeindeentwicklungsprozess für die gesamte Ortsmitte zu organisieren.

Dabei ging es nicht mehr nur um Angebote für Seniorinnen und Senioren, sondern um die Entwicklung der gesamten Gemeinde und alle Altersgruppen.

Diesmal sollte der Prozess durch eine intensive Bürgerbeteiligung geprägt sein. Die Menschen in Grünkraut wurden intensiv und kontinuierlich beteiligt.

Nach einem Auftaktworkshop folgten diverse weitere Workshops mit Architekturbüros, denen jeweils unmittelbar Beteiligungsveranstaltungen nachgeschaltet wurden.

Online und im Rathausfoyer war der Stand des Prozesses jederzeit einsehbar. Auf Meinungskarten, die im Rathaus permanent ausgelegt waren, konnten die Bürgerinnen und Bürger anonym oder mit Angabe der persönlichen Daten ihre Impulse formulieren.

Ein Begleitgremium aus Vertretern des Gemeinderates, der Bürgerschaft und der Gemeindeverwaltung reflektierte während des gesamten Verfahrens. Zusätzliche öffentliche Veranstaltungen zum Beispiel zu genossenschaftlichem Wohnen sorgten für öffentliche Wahrnehmung.

Der Gemeinderat diskutierte die Ergebnisse des „kooperativen Workshopverfahrens“ in einer öffentlichen und partizipativ ausgerichteten Sitzung. Dort waren die Bürgerinnen und Bürger eingeladen waren, sich ebenfalls einzubringen und mit den Fachleuten zu diskutieren.

Am Ende stand ein breiter Konsens für ein innovatives Konzept. Die Neugestaltung der „grünen Ortsmitte Grünkraut“ wird den Naturraum der Scherzach aufwerten. Ein Kindercampus mit Sportpark im Bereich der Schule und des Kindergartens soll entstehen. Eine Tagespflege mit Café ist ebenso Bestandteil der Planung wie Angebote für generationsübergreifendes Wohnen.

Grünkraut zeigt, welche Potentiale gute Bürgerbeteiligung heben kann.

Statt Ablehnung und Stillstand gibt es nun Perspektiven für eine langfristige Aufwertung der Gemeinde über generationsgrenzen hinweg.

Besonders positiv sind die Erfahrungen in der Kooperation von Kommunalpolitik, Verwaltung, professionellen Planer*innen und der Bürgerschaft.

Vor allem aber zeigt Grünkraut: Auch in kleinen Kommunen hat Beteiligung Potential.

Wenn sich alle Akteure darauf einlassen.

Wenn sie Beteiligung nicht als Akzeptanzbeschaffung für längst fertige Pläne sehen – und Bürger*innen nicht als Risiko oder Bremser, sondern als Gestaltende.

Bürgerbeteiligung in kleinen Kommunen funktioniert anders.

Aber sie funktioniert.

Wenn man sie will.

Abonnieren
Benachrichtige mich bei

0 Kommentare
Inline Feedbacks
View all comments
You May Also Like