Ausgabe #282 | 29. Mai 2025
Wenn die Flagge weht
Miina entstammte einer bettelarmen Familie von Kleinbauern. Als Mädchen standen ihre Chancen auf gesellschaftlichen Aufstieg schlecht.
Mitte des 19. Jahrhunderts musste man in Finnland auch als Mann gebildet und wohlhabend sein, um am politischen Leben teilhaben zu können.
Miina war nichts davon. Nach einer kurzen Schulzeit von gerade mal zwei Semestern landete sie bereits in einer Baumwollspinnerei.
Dort wurden die Arbeitskräfte schlecht bezahlt, doch für die Kinder gab es immerhin elementare Unterrichtsstunden.
Miina lernte lesen. Sie verschlang alles an Büchern und Zeitungen, was ihr in die Hände fiel.
Mit 18 schaffte sie den Sprung zum Dienstmädchen. Ihr Chef war Leiter der Volkshochschule in Helsinki und ermöglichte ihr die Teilnahme an Kursen. Mit ihm diskutierte sie auch häufig politische Themen.
Mit 23 wurde sie Gründungsmitglied des Dienstmädchenvereins von Helsinki, später Vorsitzende, die sie bis zu ihrem Tod mehr als 50 Jahre blieb.
Sie wurde zu einer Pionierin des Gewerkschaftswesens in Finnland.
1904 wurde sie Mitglied der Frauengruppe der Sozialdemokratischen Partei Finnlands. Sie kämpfte aktiv für die Durchsetzung des Frauenwahlrechts und war dann auch eine der 19 Frauen, die als erste weibliche Abgeordnete in das neu gegründete Einkammerparlament Finnlands in 1907 gewählt wurde.
1926 wurde Miina Sillanpää zur ersten finnischen Ministerin für Soziales.
Sie wirkte an unzähligen Stellen. Auf sie gehen die ersten Frauenhäuser zurück, ebenso wie zahlreiche Initiativen zur Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern an politischen Entscheidungen.
Heute ist die Bürgerbeteiligung in Finnland bunt und vielfältig. Viele Kommunen beteiligen ihre Einwohner*innen, auch auf nationaler Ebene gibt es unterschiedliche Formate.
Ein fakultatives Referendum richtet sich gegen ein vom Parlament beschlossenes Gesetz. Eine bestimmte Anzahl von Bürger*innen kann dies beantragen.
Beim obligatorischen Referendum ist die Abstimmung zu bestimmten Themen, meist bei Verfassungsänderungen, verpflichtend vorgeschrieben und findet automatisch statt.
Alle Verfahren sind unverbindlich, also keine direktdemokratischen Entscheidungen, sondern konsultative Befragungen, also „Meinungsbilder“.
Dialogische Formate dagegen sind in Kommunen ebenso Tradition wie Bürgerbudgets.
Das Bürgerbudget in den finnischen Kommunen geht dabei über einen rein konsultativen Prozess hinaus. Nicht nur die Vorschlagsebene ist bürgerbasiert, sondern auch der Entscheidungsprozess ist verbindlich an das Bürgervotum gekoppelt.
In der Hauptstadt Helsinki wurde das erste Bürgerbudget 2019 durchgeführt. An der Abstimmung zu diesem ersten Bürgerbudget nahmen 8,9 Prozent der Einwohner teil. Über 10 Millionen Euro werden so jedes Jahr verteilt.
Teilnehmen dürfen auch schon Kinder ab zwölf Jahren. Die Abstimmung erfolgt per Internet mit einem personalisierten Zugang. Für Personen, die Schwierigkeiten mit dem Internetzugang haben, gibt es Hilfen, zum Beispiel in den Stadtteilbüchereien.
Auch in anderen Städten gibt es solche Bürgerbudgets, auch dort sind die Summen oft deutlich höher als in deutschen Kommunen.
In der finnischen Gesellschaft gibt es einige Unterschiede zu Deutschland. Das Vertrauen in die Politik ist größer, soziale Berufe genießen eine erheblich höhere Wertschätzung (und Bezahlung), Gemeinwohl ist viel öfter Thema in den Debatten und Entscheidungen.
Finnland ist auch das erste Land mit einem atomaren Endlager. Das Suchverfahren war so beteiligungsorientiert, dass kleinere NGOs über Personalmangel klagten. Die betroffenen Kommunen wurden ebenfalls intensiv einbezogen. Auch nach der finalen Standortentscheidung vertrauen über 80 % der Bürgerinnen und Bürger der zuständigen Behörde für nukleare Sicherheit.
Aus der Korrelation von Gemeinwohlorientierung und Bürgerbeteiligung in Finnland lässt sich jedoch nicht automatisch eine Kausalität ableiten.
Dass die finnische Beteiligungskultur die Gemeinwohlorientierung geschaffen hat, ist nicht beweisbar. Umgekehrt gilt das Gleiche.
Dass beides zusammengehört, wird in Finnland selbst allgemein so gesehen. Auch, dass Beteiligung vor allem die Aufgabe hat, jene zu Wirksamkeit zu verhelfen, die nicht ohnehin schon privilegiert sind.
Und deshalb so wichtig ist.
Das sieht man auch daran, wie die Finnen ihrer Miina Sillanpää seit einigen Jahren gedenken:
Mit einem eigenen nationalen Feiertag am 1. Oktober.
Einem Tag, an dem im ganzen Land überall die finnische Flagge weht.
Und der offiziell „Miina-Sillanpää-Tag – Tag der Bürgerbeteiligung“ heißt.