#283 | Nix für Kinder?

Wenn Kinder wählen dürften, was würde dann geschehen? Mit den Kindern, aber auch mit unserer Demokratie?

Ausgabe #283 | 5. Juni 2025

Nix für Kinder?

Alle meine vier Kinder hatten ihre ersten Demokratieerfahrungen nicht in der Schule, sondern in den Ferien.

Und die waren anstrengend. Aber wirksam. Denn sie alle verbrachten viele Sommer in einem Kinderzeltlager eines engagierten Vereins.

Dort gab es eine zentrale demokratische Institution: Die Lagervollversammlung. Sie regelte alles, was zu regeln war. Programm, Strukturen, besondere Aufgaben, sogar Schlafenszeiten.

Dabei hatte jeder und jede eine Stimme, egal ob Freizeitleitung oder achtjährige Teilnehmerin. Und da auch in diesem Verein kein Betreuungsschlüssel von 1:1 herrschte, hatten die Kinder stets die rechnerische Mehrheit.

Das war oft anstrengend, dauerte nicht selten lange, frustrierte hin und wieder erwachsene Betreuer*innen.

Aber es hat immer funktioniert. Immer. Meist ohne, manchmal mit Konflikt. Aber wirklich: Immer.

Und so gut, dass diese demokratischen Selbstwirksamkeitserfahrungen bei allen meinen Kindern bis heute nachwirken. Und sie sind alle heute, als Erwachsene, immer wieder selbst als Betreuerin, Koch, Freizeitleitung dort aktiv.

Die Menschen in diesem Verein trauen Kindern viel zu. Und dem demokratischen Diskurs auch. Sie lehren deshalb keine Demokratie. Sie organisieren sie.

In der Schule hatten meine Kinder solche Erfahrungen nicht. Oder nur in eher abschreckender Form.

So wie bei den immer beliebter werdenden U18-Wahlen.

Kennen Sie?

Ist im Grunde ganz einfach: Rund zwei Wochen vor Kommunal-, Landtags- und Bundestagswahlen geben Schüler*innen ihre Stimmen ab. Zur Wahl stehen dabei die gleichen Kandidat*innen und Parteien wie bei der „echten“ Wahl.

Die Wahlergebnisse werden veröffentlicht.

Und das war es dann auch schon.

Manche Schüler*innen befassen sich zuvor intensiv mit ihrer Wahlentscheidung, andere gar nicht. Manche wählen demokratische Parteien, andere nicht.

Im Regierungsbezirk Dresden erhielt die AfD bei der vergangenen Bundestagswahl mit 36,44% mehr Stimmen als CDU, SPD, FDP und GRÜNE zusammen. In Berlin erhielt die LINKE 27,28%, rund dreimal soviel wie die Kanzlerpartei CDU.

Gemeinsam haben die Ergebnisse in Dresden, Berlin, Stuttgart und anderswo eines: Sie haben keine Wirkung.

Denn natürlich haben diese Jugendwahlen keinen Einfluss auf die Zusammensetzung des Parlaments, des Stadtrats oder irgendeines anderen Gremiums.

Die jungen Menschen sollen ja Demokratie „lernen“.

Ob das so gelingt, darf durchaus kritisch hinterfragt werden.

Denn wir wissen aus der Partizipationsforschung: Frühe demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen sind von großer Bedeutung für ein positives Verhältnis zur Demokratie.

Doch in Selbstwirksamkeit steckt eben: Wirksamkeit. U18-Wahlen sind organisierte Wirkungslosigkeit.

Es gibt auch andere Ansätze.

In Deutschland leben mehr als 13 Millionen Deutsche, die jünger sind als 18 Jahre. Nehmen wir die Menschen ohne deutschen Pass hinzu, sind es über 14 Millionen. Nahezu ein Fünftel der Bevölkerung. Was die Regierung und die Parteien im Bundestag beschließen, gilt für sie alle. Selbst wählen, wer sie vertritt, dürfen sie aber nicht.
Teilweise wird das Wahlalter bei Kommunal- und Landtagswahlen auf 16 Jahre heruntergesetzt. Doch alles unter 16 darf bei Demokratie nur zugucken. Oder, siehe U18-Wahlen, simulieren.

Das hat Gründe.

Aber nicht nur unter dem Gesichtspunkt von Gerechtigkeit und Interessenvertretung, sondern eben auch wenn es um die Herausbildung von demokratischer Haltung geht, ist die Frage erlaubt, ob es nicht auch anders geht?

Geht es.

Es gibt einige Konzepte zur demokratischen Mitwirkung von Kindern und Jugendlichen.

Da ist zum Beispiel das „Wahlrecht ab Geburt“. In den ersten Jahren würde es stellvertretend von den Eltern ausgeübt, die Stimmen bleiben aber immer nur „geliehen“. Die Eltern müssten die Wahl mit zunehmendem Alter der Kinder absprechen und dürften nur nach dem Wunsch der Kinder handeln. Sobald die Kinder selbst wählen können und wollen, würde das Recht der Eltern automatisch verfallen.

Natürlich ist das Konzept fehleranfällig und in der Praxis schwer umzusetzen. Auch Grundrechte wie die geheime Wahl würden hier Probleme bereiten.

Doch genau das würde dafür sorgen, dass Demokratie und Wahlen regelmäßig Thema in den Familien wären. Allein das wäre schon eine wunderbare Sache. Dass sich Politik dann erheblich mehr an den Interessen von Eltern und Kindern orientieren würde, wäre ein willkommener Nebeneffekt.

Eine modifizierte Idee ist ein spezielles „Kinderwahlrecht“. Es sieht das Wahlrecht grundsätzlich ab dem Moment vor, indem sich Kinder selbst in das Wählerverzeichnis eintragen können und wollen. Es ähnelt dem ersten Vorschlag, kennt aber keine „Stellvertretung“ durch Eltern. Es konzentriert sich mehr auf das Demokratierlebnis als auf die Interessenvertretung.

Die „Herabsetzung des Wahlalters“ auf 16, 14 oder 12 Jahre ist eine weitere Option. Kinder sind dann draußen, Jugendliche aber haben die Chance, früher als jetzt wirksam zu wählen. Die 16 Jahre sind in Teilen Deutschlands bereits Praxis, ohne dass die Demokratie kollabiert wäre. In anderen Ländern wird schon weitergedacht. In Helsinki zum Beispiel dürfen beim Bürgerhaushalt, in dem immerhin über 10 Millionen Euro verteilt werden, schon 12-Jährige mitstimmen.

Eine andere Idee ist das „Elternwahlrecht“. Eltern bekommen für jedes ihrer Kinder, die noch unter 18 Jahre alt sind, eine Stimme mehr. Hier steht die (indirekte) Interessenvertretung im Vordergrund. Demokratische Selbstwirksamkeitserlebnisse sind kein Thema.

Realistisch ist in Deutschland in naher Zukunft wohl keiner der Ansätze. Politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen wird mittelfristig eher in Beteiligungsprozessen stattfinden.

Und da geschieht schon heute viel. Damit das aber wirkt, muss die Frage nach der Wirkung jedes Mal ernsthaft neu gestellt werden.

Denn demokratische Haltung lernt man dann, wenn man demokratische Wirksamkeit entfalten kann.

Und das sollte nicht nur in den Ferien möglich sein, sondern vor allem in unseren Bildungsinstitutionen.

Und da ist, man muss es so deutlich sagen, noch eine Menge Luft nach oben.

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