Ausgabe #29 | 16. Juli 2020
Was nicht wirkt, ist nichts wert
Im Grunde ist die die einzige Partei in Deutschland, die perspektivisch das Potential zu einer absoluten Mehrheit hat: die Partei der Nichtwähler*innen. Bei der Europawahl 2014 hat sie es sogar geschafft: nur rund 48% der Wahlberechtigten machten von ihrem Wahlrecht Gebrauch. Eine Zahl, die eigentlich alle Alarmglocken klingeln lassen sollte.
Wenn die Mehrheit der Bürger*innen nicht einmal von ihrem elementarsten demokratischen Recht Gebrauch macht, was sagt das über die Akzeptanz der Demokratie in ihrer aktuellen Form aus? Und wie passt das mit dem Wunsch nach mehr Bürgerbeteiligung zusammen? Wie kann es um mehr Beteiligung gehen, wo offensichtlich für viele von uns nicht mal das einfache Kreuz auf dem Wahlzettel noch zumutbar ist?
Das sind gemeine Fragen. Aber um die Antworten dürfen wir uns nicht drücken. Wir können uns auch nicht damit aus der Affäre ziehen, indem wir die letzte Bundestagswahl als Beispiel nennen, bei der sich die Wahlbeteiligung, vor allem aufgrund der immer größeren antagonistischen Konflikte in der deutschen Parteienlandschaft, etwas stabilisiert hat. Denn wenn nun erklärte Demokratie- und Menschenfeinde im Parlament sitzen, ist das vieles, aber kein Zeichen für mehr Demokratieakzeptanz in unserer Gesellschaft.
Doch was heißt das tatsächlich für die Demokratie? Kann die zunehmende Bürgerbeteiligung zu einer Trendumkehr beitragen? Oder sind wir auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der immer größere Teile nicht mehr an demokratischen Prozessen teilnehmen, während eine kleine, gut gebildete und durchsetzungsfähige Minderheit über zunehmende Beteiligungsstrukturen mehr Einfluss hat, als je zuvor Können gar Zufallsbürgergremien die Wahlbeteiligung als Legitimierungsprüfstein für die Demokratie ersetzen? Der Ältestenrat des deutschen Bundestages leistet sich jetzt einen „Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt“. Es ist nicht unbegründet, zu vermuten, dass der Anteil an Nicht- und Nochniewähler*innen in diesem Bürgerrat nicht an die Ergebnisse der erwähnten Europawahl herankommt, jene Wahl, die mit dem Thema des Bürgerrates am ehesten korrespondiert. Was also soll dieses Gremium bewirken? Böse Zungen kontern mit dem bekannten Brecht-Zitat, eigentlich auf die SED der Stalinzeit gemünzt:
„Das Volk hat das Vertrauen der Regierung verscherzt. Wäre es da nicht doch einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?“
Der Vergleich hinkt. Doch: Der Ältestenrat des Deutschen Bundestages besteht aus vom Volk gewählten Abgeordneten. Er hat die Arbeit des vom Volk gewählten Parlamentes zu organisieren. Warum hält er sich nun ein eigenes Gremium von 0,0002 % an mehr oder weniger zufällig ausgewählten Mitgliedern dieses Wahlvolkes? Welche Wirkung soll und kann das letztlich auf die Akzeptanz der Demokratie in unserer Gesellschaft haben? Möglicherweise bringt die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit einen starken Impuls für mehr Beteiligung. Es wäre wünschenswert.
Denn die Kernfrage bleibt: Wie kann die aktive Wertschätzung der Demokratie in unserem Land verbessert werden? Und was können Beteiligungsprozesse dazu beitragen, wenn sie nur die erreichen, deren Stimme ohnehin bereits „zählt“?
Die Antwort liegt in der Frage. Und zwar in der Frage an die Nichtwähler*innen zu ihrer Motivation. Und da haben zahlreiche Erhebungen der letzten 30 Jahre immer wieder dieselbe Hauptantwort zu Tage gefördert. Es wird schlicht bezweifelt, dass die eigene Stimme irgendein Gewicht, einen Einfluss, eine Wirkung habe. Und genau das ist der entscheidende Punkt: Die Wirkung.
Wer keine Wirkung erlebt, kann auch kein Interesse aufrechterhalten. Das schöne Wort „Selbstwirksamkeit“ ist der Schlüssel zu allem. Selbstwirksamkeit ist zentrales Motiv für politisches Handeln und es spielt eine ganz besondere Rolle in der Frage der Beteiligung. Deshalb lautet der dritte der von der Allianz Vielfältige Demokratie formulierten Grundsätze Guter Beteiligung auch:
„Gute Bürgerbeteiligung braucht klare Ziele und Mitgestaltungsmöglichkeiten“
Das ist keine technische Frage. Sondern eine elementare Grundbedingung, denn Beteiligung muss Selbstwirksamkeit ermöglichen. Und dazu muss sie wirken. Wirkungslose Beteiligung ist letztlich wertlose Beteiligung.
Sie ist sogar kontraproduktiv, weil sie frustriert. Und Gelegenheit zur Frustration gibt es reichlich: Wenn den Beteiligten zu Beginn überhaupt nicht klar ist, welche Wirkung letztlich überhaupt möglich ist, wenn munter zu Dingen beteiligt wird, die ohnehin längst feststehen, wenn am Ende Gremien entscheiden, die am Beteiligungsprozess nicht beteiligt waren, kein Interesse daran haben und nach ganz anderen Kriterien Kompromisse aushandeln, dann sind das alles Faktoren, die selbst hervorragend organsierte Beteiligungsprozesse entwerten und zu Frustrationserlebnissen degradieren. Deshalb ist es so wichtig, von Anfang an ehrlich zu sein.
Allen Beteiligten muss klar sein, welches die verhandelbaren Gestaltungsspielräume sind und wo deren Grenzen liegen bzw. wo Festlegungen existieren, die nicht mehr zur Disposition stehen. Eine frühzeitige, offene und transparente Kommunikation der Rahmenbedingungen und Grenzen der Beteiligung beugt vor, dass sich Akteure unter falschen Voraussetzungen an dem Prozess beteiligen und Erwartungen enttäuscht werden.
Natürlich ist es leichter, am Anfang eines Prozesses Beteiligungsbereitschaft zu erzeugen, wenn man alles für verhandelbar erklärt. Natürlich ist es unangenehm, gleich zu Beginn eines Prozesses klar zu sagen, dass diverse Dinge längst entschieden sind. Manchmal kann das sogar bedeuten, dass es schlicht keine Grundlage für einen Beteiligungsprozess gibt. Entweder, weil man viel zu spät daran gedacht hat, oder weil das Thema letztlich tatsächlich „alternativlos“ ist. Dann kann es um Bürgerinformation gehen, um Werbung für Akzeptanz oder mindestens Toleranz. Bürgerbeteiligung sollte man das dann jedoch nicht nennen. Denn Beteiligung setzt Wirkungsmöglichkeit voraus. Sonst braucht sie niemand.
Gute Beteiligung muss deshalb Wirkung nicht nur zulassen. Sie muss sie wollen. Sie muss klar kommunizieren, welches Wirkungspotential es gibt. Wenn es ihr dann noch gelingt, auch jene zu beteiligen, die mangels Selbstwirksamkeitserfahrungen bislang nicht einmal den Gang zur Wahlurne antreten wollten, dann hat Beteiligung nicht nur Berechtigung, sondern auch demokratiestärkende Wirkung. Dann ist Beteiligung Gute Beteiligung.
Am Ende bleibt ein zentraler Prüfstein für die Stärke der Demokratie die Wahlbeteiligung. Beteiligung kann sie fördern. Nicht ersetzen.