#33 | Experten in eigener Sache

Mehr Teilhabe bietet mehr Menschen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Genau das stärkt unsere Demokratie.

Ausgabe #33 | 13. August 2020

Experten in eigener Sache

Sie nennen sich gerne „Querdenker“ und immer wieder wird dieses Framing auch in der Presse unhinterfragt übernommen. Es ist eben immer verlockend, komplexe Bewegungen und Prozesse in einem Begriff zusammenzufassen. Ob nun je nach Sichtweise „Querdenker“ oder „Covidioten“: Die Teilnehmer*innen und Sympathisant*innen der einschlägigen weitgehend hygienebefreiten Kundgebungen sind so inhomogen wie selten in der deutschen Demonstrationsgeschichte.

Verunsicherte Bürger*innen, Esoteriker*innen unterschiedlicher Couleur, Reichsbürger*innen, Frustrierte, durch die Pandemie ökonomisch Ruinierte, Demokratieverächter*innen, Rechtsradikale, Antisemit*innen, QAnon-Fans und andere Verschwörungsfanatiker*innen, waschechte Nazis und unpolitische Gekränkte – die Liste ist nicht annähernd vollständig. Eine echte politische Schnittmenge gibt es nicht. Am ehesten vereint noch der kollektive Frust, der in Form von Hass auf „Die da oben“ projiziert wird sowie das fast allen Akteuren gemeinsame Gefühl, dass andere über ihre Köpfe hinweg entscheiden.

Auf den Kundgebungen dieser Bewegung manifestiert sich dieses Gefühl in einer unübersehbaren Radikalität. Eingesickert ist es aber schon seit geraumer Zeit in breite Schichten unserer Bevölkerung.
Die sinkende Akzeptanz repräsentativer Institutionen, ihrer Mitglieder und ihrer Entscheidungen ist ein schleichender Prozess, der lange vor Corona begonnen hat.

Das Grundvertrauen in die Leistungsfähigkeit der repräsentativen Demokratie erodiert. Das belegen zahlreiche Untersuchungen. Generell haben das Ansehen der Parlamente und die Zustimmung der Bürger*innen zu den Parteien abgenommen. Lange Zeit rückläufige Wahlbeteiligungen und Mitgliederzahlen in den Volksparteien lassen politische Erosionsprozesse befürchten, die auch die Demokratie betreffen können.

Generell ist das Misstrauen gegenüber der Politik gewachsen – sowohl gegenüber dem Stillstand wie gegenüber Veränderungen, die sie anbietet.

Forderungen nach mehr direkter Demokratie sind eine Antwort darauf, mehr konkrete Bürgerbeteiligung insbesondere im konkreten Lebensumfeld ist eine andere. Mit dem jüngst vom Ältestenrat des Deutschen Bundestag beschlossenen „Bürgerrat Deutschlands Rolle in der Welt“ begibt sich die Spitze unseres nationalen Parlaments aktuell ebenfalls auf die Suche nach neuen demokratischen Formaten und Prozessen.

Alle diese Pfade sind sinnvoll. Sie stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Sie sind erst der Beginn einer nötigen Erneuerung der Demokratie in einer von Digitalisierung und Globalisierung geprägten Epoche.
Wichtige Impulse können von diesen Pfaden ausgehen – wenn es ihnen gelingt, die konstatierten Defizite und die Kritik an den bisherigen Strukturen aufzunehmen und Antworten darauf anzubieten.
Genau das ist die entscheidende Herausforderung.

Wenn immer mehr Menschen das Gefühl haben, andere würden über Ihre Köpfe hinweg entscheiden, dann ist der Verweis auf freie Wahlen in regelmäßigem Turnus offensichtlich keine hinreichende Antwort.
Es ist auch wenig wahrscheinlich, dass die Schaffung neuer, mehr oder weniger repräsentativer Gremien dieses Gefühl behebt. Für diejenigen, die auch hier nicht beteiligt sind, ist es am Ende wenig relevant, ob Wahlen, repräsentativ konstruierte Rekrutierung oder zufallsgetriebene Verfahren zu ihrer Besetzung herangezogen wurden.

Tatsächlich sind mehr oder weniger nach dem Zufallsprinzip besetzte Gremien (bspw. Bürgerräte oder das teilweise mit einer Mischung aus Zufallsrekrutierung und Wahlverfahren besetzte Nationale Begleitgremium in der Endlagersuche) ein ganz wichtiger Faktor. Sie können dabei helfen, die repräsentativen Institutionen für eine partizipative Öffnung „aufzuschließen“. Sie lösen Lernprozesse in unserer Demokratie aus. Sie beweisen, dass mehr Beteiligung nicht mehr Chaos, sondern bessere Ergebnisse produzieren kann.

Aber natürlich sind auch sie für die breite Masse der Unbeteiligten zunächst einmal Demokratie zum Zuschauen. Konkrete Wahrnehmungen von Selbstwirksamkeit bleiben aus. Das Gefühl, dass andere über Dinge verhandeln und entscheiden, die das eigene Leben betreffen, können sie allein so nicht überwinden.
Dazu braucht es Bürgerbeteiligung. Vor allem: breite Bürgerbeteiligung. Deshalb lautet der sechste Grundsatz Guter Beteiligung, wie ihn die Allianz Vielfältige Demokratie erarbeitet hat:

„Gute Bürgerbeteiligung ermöglicht vielfältige Mitwirkung.“

Die Vielfältigkeit ist der Schlüssel. Sie herzustellen, ist eine große Herausforderung an Beteiligende. Denn eine breite Einladung allein bringt noch lange keine breite Beteiligung. Wir wissen heute sehr genau, welche gesellschaftliche Gruppen besonders „beteiligungsaffin“ sind – und welche nicht. Ältere Menschen, Jüngere, Menschen mit Sprachbarriere, Erziehende und Pflegende, aber auch Menschen mit hoher beruflicher Beanspruchung brauchen mehr als eine Einladung in der Regionalpresse. Dabei sind sie alle die besten „Expert*innen in eigener Sache“.

Nicht nur für die Planung eines Skateparks gilt: Wer ohne die Zielgruppe plant, denkt schnell an den Herausforderungen vorbei. Und wer die Senioren aus dem benachbarten Wohnprojekt nicht einbezieht, macht vielleicht die Skater glücklich, hat aber möglicherweise Grundlagen für zukünftige Konflikte gelegt.
Bereits dieses kleine Beispiel zeigt: Expert*innen in eigener Sache sind meist weit mehr Akteure, als sich auf den ersten Blick anbieten. Deshalb ist es so wichtig, breit zu denken und anzusprechen – und nicht nur die gut organisierten Gruppen zu beteiligen, die sich ohnehin bemerkbar machen.

Am Ende geht es darum, möglichst viele Menschen und Gruppen zu beteiligen, deren Lebenswirklichkeit von dem Vorhaben oder Thema beeinflusst wird.

Doch das ist nur die halbe Miete.

Ebenso wichtig ist es, die Formate und Prozesse an die Vielfältigkeit der Beteiligten anzupassen „one size fits it all“ funktioniert schon in der Mode selten. In der Beteiligung noch seltener. Manche Menschen haben wenig Zeit, sich zu beteiligen, andere haben Schwierigkeiten, komplexe Texte zu verstehen, manche sind nicht mobil, andere können sich nur nach Feierabend einbringen. Ein Format für alle reicht in der Regel nicht aus. Neue digitale Möglichkeiten können da ebenso helfen wie aufsuchende Beteiligung an der Bushaltestelle oder vor dem Kindergarten.

Man braucht nicht für jedes kleine Verfahren einen bunten Strauß an Formaten. Doch man sollte sichergehen, dass möglichst viele potentiell Betroffene nicht nur von dem Angebot wissen, sondern es auch ganz konkret und an ihren Möglichkeiten orientiert unterbreitet bekommen.

Wichtig sind so generierten Erfahrungen, die Beteiligung als „Expert*innen in eigener Sache“, die so erlebte Selbstwirksamkeit, die Botschaft einer Gesellschaft, die besagt „Du bist uns wichtig“. Denn Menschen, die diese Erfahrungen machen, entwickeln eine andere Sichtweise auf demokratieverachtende Narrative. Wer selbst an komplexen Entscheidungsprozessen beteiligt ist, tut sich zudem auch leichter damit, nicht nur solche Prozesse, sondern auch deren Akteure zu respektieren.

Demokratie ist kein Konsumartikel. Nur wer mitmachen kann, kann sie auch schätzen lernen.

Was uns am Ende zu einer ketzerischen Frage führt: Unsere Kinder lernen in der Schule viel Sinnvolles. Schulen, Hochschulen, Ausbildungsbetriebe und andere Institutionen produzieren Generation für Generation qualifizierte Handwerker, Wissenschaftler, Künstler, Dienstleister, Kaufleute. Darin investieren wir viel.

Aber was investieren wir bislang in zukünftige Demokraten?

Denn das sollen doch all diese jungen Menschen werden. Dass Demokratie keine genetische Disposition ist, darüber besteht Einigkeit. Es ist also eine soziale Kompetenz. Soziale Kompetenzen aber muss man erwerben – indem man übt.

Doch das ist ein Thema für einen der kommenden Newsletter.

Bis dahin: Bleiben Sie gesund!

Herzlichst, Jörg Sommer

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