#35 | Demokratie nach Drehbuch?

Politische Teilhabe nutzt zahlreiche Methoden und Formate. Doch wie findet man die Richtigen?

Ausgabe #35 | 27. August 2020

Demokratie nach Drehbuch?

Uns Deutschen wird im Ausland gerne eine gewisse Überbewertung von Regeln und prozessualen Strukturen nachgesagt. So stand erst vor wenigen Tagen auf SPIEGEL Online „Die Deutschen nehmen sich ihre Zeit, um das, was sie tun, gründlich zu machen“ (Samer Tannous, syrischer Hochschuldozent).

Wie viel gründlicher wir Deutschen im Verhältnis zu anderen Kulturen sind, vermag ich nicht zu beurteilen. Bemerkenswert ist diese methodische Gründlichkeit allerdings auch in Fragen demokratischer Teilhabe. So listet allein die Bundeszentrale für politische Bildung aktuell 276 Methoden alleine für Kinder- und Jugendbeteiligung auf.

Wir sammeln im Berlin Institut für Partizipation seit mehreren Jahren systematisch Erfahrungen mit Methoden und Formaten, die in Beteiligungsprozessen eingesetzt wurden. Unsere interne Datenbank dürfte in naher Zukunft eine vierstellige Zahl von Methoden umfassen.

Tatsächlich ist die Auswahl des richtigen Formates keine triviale Sache. So schreibt die Allianz Vielfältige Demokratie in ihrer Broschüre zu den Grundsätzen Guter Beteiligung u. a.:

„Zur konkreten Umsetzung ist eine sorgfältige Wahl der Methoden und Verfahren wichtig. Ein erfolgreicher Beteiligungsprozess beruht häufig auf der passgenauen Kombination verschiedener Elemente.“

Dabei sind es oft wenig beachtete kleine Justierungen, die eine wertschätzende Kommunikation der Beteiligten erleichtern – oder verhindern können. Der berühmte „Runde Tisch“, medial besonders herausstechend in der heißen Phase der „Wende“ in der ehemaligen DDR, wurde der Sage nach schon über 800 Jahre zuvor als cleveres Beteiligungsformat eingesetzt – von König Artus, dessen engste Gefolgsleute überwiegend heißblütige, ehrversessene „Edelmänner“ gewesen sein sollen.

Die testosterongetriebene Männertruppe wäre wohl rasch auseinandergefallen, hätte Artus nicht mit einem simplen Coup für Augenhöhe gesorgt: Mit einem runden Tisch, der Tafelrunde, die keine besseren oder schlechteren Platzierungen kannte.

Damals ging es darum, Konflikte zu vermeiden. Heute werden Runde Tische gerne eingesetzt, um existierende Konflikte zu entschärfen – oder gar so zu tun, als gäbe es sie nicht.

Keine Runden Tische gibt es übrigens bei Tarifverhandlungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften. Im Gegenteil: Dort sitzen sich gerne mal bis zu 60 Vertreter auf jeder Seite an langen Tischreihen mit großem Abstand gegenüber. Der Grund: Jede Tarifpartei ist darauf bedacht, Stärke und Konfliktbereitschaft zu zeigen und die eigenen Reihen geschlossen zu halten.

Wir sehen also: Schon eine so simple Sache wie die Auswahl der passenden Tischform hat Auswirkungen auf Verlauf und Ergebnis demokratischer Prozesse.
Die Frage liegt auf der Hand: Wie kann man, besonders in komplexen Prozessen, alle relevanten Formatentscheidungen vorher treffen, optimale Methoden auswählen, Prozesse optimal planen, entscheidende Details festlegen und Fehler vermeiden?
Die Antwort lautet: gar nicht.

Denn bei aller (mehr oder minder deutschen) Prozessverliebtheit: Ein demokratischer Prozess ist nur dann ein demokratischer Prozess, wenn er eben nicht vollständig durchkomponiert ist.
Damit sind wir in unserer kleinen Serie zu den 10 Grundsätzen Guter Beteiligung beim achten Grundsatz angekommen:

„Gute Bürgerbeteiligung braucht eine sorgfältige und kompetente Prozessgestaltung“

Das klingt auf den ersten Blick wie ein Widerspruch zu meinen obigen Ausführungen. Ist es aber nicht. Die Allianz Vielfältige Demokratie fordert eben keine perfekte Planung ein, wohl aber eine sorgfältige Prozessgestaltung.

Sorgfalt heißt in diesem Fall: Flexible Reaktion auf nicht vorhersehbare Entwicklungen.
Konkret formuliert die Allianz: „Eine kompetente Umsetzung des Beteiligungsprozesses ist die Grundlage erfolgreicher Bürgerbeteiligung. Beteiligungsprozesse sollen flexibel und individuell dem jeweiligen Fall und dessen Entwicklungen angepasst realisiert werden.“

Das ist das genaue Gegenteil eines vorher von den Beteiligenden durchkomponierten Prozesses, der anschließend nach Drehbuch abgewickelt wird.

Natürlich braucht man „einen Plan“, aber einen, der nicht nur flexibel ist, sondern auch gemeinsam mit den Beteiligten ausgestaltet wird.

Der einfachste Weg dahin: Die Beteiligten schlicht fragen, wie sie sich beteiligen wollen.

Es spricht nichts dagegen, Vorschläge (gerne auch Alternativen) anzubieten. Das Format für die Beteiligten jedoch vorher festzulegen und von diesen dann zu erwarten, dass sie sich den fremdbestimmten Regeln unterwerfen, ist keine empfehlenswerte Option. Über die Gründe dafür sprachen wir in der vergangenen Woche, als es um den „Beteiligungsvertrag“ ging.

Deshalb ist die von der Allianz geforderte „sorgfältige Prozessgestaltung“ eben nicht die Auswahl einer verbindlichen Methode, sondern das Aufsetzen einer Prozessstruktur, die es ermöglicht, gemeinsam mit den Beteiligten die jeweils optimale Methodenkombination zu finden und sie ggf. auch an Veränderungen anzupassen. Da ist Methodenkompetenz bei den Beteiligenden, eventuell sogar eine methodisch erfahrene externe Prozessbegleitung hilfreich. Doch wir sollten, auch wenn es uns Deutschen angeblich schwerfällt, die Technik nicht über die Kultur stellen. Denn wir haben heute zwar viel über Methoden gesprochen, am Ende aber ist es vor allem eine Frage der Haltung.

Planungszellen, Ephesos-Modelle, Dyaden, Dragon Dreaming, partizipative Reallabore, Appreciative Inquiries, Democs, partizipative Backcastings und Charettes sind bewährte Methoden und Formate. Doch ohne eine wertschätzende, ergebnisoffene, diskursorientierte Grundeinstellung der Beteiligenden können sie ihre Möglichkeiten nicht entfalten.

Umgekehrt gilt: Wenn es einen offene, wertschätzende, integrative Haltung gibt, dann braucht es nicht zwangsläufig ausgetüftelte Methoden, markenrechtlich geschützte Formate und teure technische Ausstattungen.

Dann funktioniert auch mal ein schlichter Stuhlkreis.

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