Ausgabe #4 | 23. Januar 2020
Der Zorn der alten Männer
Sie sind der Albtraum jeder Bürgerbeteiligung: die zornigen alten Männer. Bürgermeister, Moderatoren, Amtsmitarbeiter eint die gemeinsame, manchmal sogar traumatische, Erfahrung:
Sobald die Fragerunde in der Bürgerversammlung beginnt und die Mikrofone offen sind, treten sie an. Haben die den Platz am Mikrofon ergattert, kommt selbstverständlich keine Frage. Sondern ein Co-Referat. Gerne auch mal mehrere Minuten, nicht immer zur Sache, aber immer emotional, mit hoch rotem Kopf und wilden Gesten wird geschimpft und oft auch gebrüllt.
Mangelnder Beifall aus dem Publikum stört nicht weiter, doch gibt es gar Beifall, laufen die Betreffenden erst zu Hochform auf. Hat man Pech, sind solche Redner kein Einzelfall, sondern sammeln sich in langer Reihe hinter dem Saalmikrofon.
Selbst wenn ein brillanter Moderator die Veranstaltungsregie wieder einfängt: Was immer bleibt, sind schlechtes Klima, vergiftete Stimmung, frustrierte Beteiliger und irritierte Teilnehmer.
Ja, es stimmt, häufig hört man von diesen Herren Positionen aus dem Dunstkreis der AfD. Doch die politische Position ist nicht das Problem. Es kann auch schon mal ein pensionierter Oberstudienrat und Vogelfreund sein, der gegen einen Straßenneubau ins Feld zieht. Oder ein Anhänger kruder Verschwörungstheorien, der fürchtet, die Bundesregierung könnte mit Mobilfunkmasten unsere Gehirnzellen aussaugen.
Es geht nicht um Politik. Es geht um Anerkennung. Es geht um späte Rache für das Gefühl, diese Anerkennung im Leben nicht erfahren zu haben. Wer keine Anerkennung erfährt, der wünscht sich wenigstens Aufmerksamkeit.
Und da beginnt erst das wirkliche Problem, verschärft noch durch den Anspruch der Demokraten, „breit“ zu beteiligen. Breit heißt, auch jene Gruppen politisch teilhaben zu lassen, deren Vertreter eben nicht von alleine zu jedem Saalmikrofon stürmen. Es sind die Frauen, die Jungen, die noch voll im Berufsleben stehenden, die weniger Gebildeten, die Migranten.
Beteiligungsprofis machen sich viele Gedanken darüber, wie sie den Anteil der Männer jenseits der 50 reduzieren können.
Denn sie sind doppelt gefährlich. Die zornigen alten Männer ruinieren die Stimmung. Die ruhigen, souveränen alten Männer allerdings werden schnell zu Führungsfiguren und Meinungsmachern. Hinzu kommt, dass diese Gruppe ja noch in der repräsentativen Politik tendenziell überrepräsentiert ist.
Dies führt in der Konsequenz dazu, dass es populär wird, die alten Männer generell als Problem zu betrachten: „Alte Säcke Politik“ von Wolfgang Gründinger ist nicht ohne Grund das „Politische Buch des Jahres“. Die Versuchung ist also groß, zu überlegen, wie wir diese alten Männer loswerden.
Aber das ist der falsche Ansatz.
Und das gleich aus mehreren Gründen: Erstens ist das Prinzip der Beteiligung inklusiv. Beteiligung beteiligt. Ausgrenzung grenzt aus. Im Design von Beteiligungskultur über Ausgrenzung nachzudenken, führt zu kuriosen Ergebnissen und weit weg von dem, was wir mit Beteiligung wollen: Menschen verbinden und nicht separieren.
Zweitens geht es bei Beteiligung darum, den Menschen, die in den repräsentativen Strukturen zu kurz kommen, die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu ermöglichen. Das ist eine ganz entscheidende demokratiehygienische Aufgabe von Beteiligung. Wie aber kann ein Mensch ein diesbezügliches Bedürfnis besser zum Ausdruck bringen als in einer emotionsgeladenen Wutrede? Warum also die ausgrenzen, die Selbstwirksamkeit am deutlichsten begehren?
Drittens gehören Menschen zu Milieus. Doch deshalb werden sie noch lange nicht durch dieses Milieu repräsentiert. Wenn die Mehrheit der politischen Mandatsträger weiß, gebildet, alt, heterosexuell und männlich ist, kann man daraus noch lange keine Nichtbeteiligungslegitimierung für andere Menschen aus dem gleichen Milieu aber ohne Mandat ableiten. Erklären Sie mal Ihrer Tochter, dass es dieses Jahr kein Geburtstagsgeschenk gibt, weil das gleichaltrige Nachbarsmädchen sein zweites Pony bekommen hat …
Und viertens geht es bei Beteiligung auch um Qualität. Ergebnisse von Beteiligung können sich nicht auf eine Wahl der Beteiligten berufen, sondern nur durch ihre Qualität überzeugen. Jemand, der zu dieser Qualität beitragen kann, auszuschließen, weil er das falsche Geburtsdatum und/oder das falsche Geschlecht hat, ist der Akzeptanz der Ergebnisse nicht dienlich.
Egal, ob es sich um die zornige oder die dominante Variante des alten Mannes handelt: Wir sollten nicht über die Ausgrenzung phantasieren, sondern über die Akquise, die Motivation und die Integration in die Beteiligungsprozesse.
Denn gute Beteiligung lebt von einem wertschätzenden Miteinander. Wir sollten keinem alten Mann die Chance nehmen, diesbezügliche Lernerfahrungen zu machen. Sie kann am Ende nur allen nützen. Wir beteiligen nicht zu viele alte Männer, wir beteiligen zu wenig Menschen.
Viele Akzeptanzprobleme unserer Demokratie hängen damit zusammen, dass wir in den vergangen Jahren zu wenige zornige alte Männer beteiligt haben. Und junge Frauen, und Migranten, und viele andere …
Warum ich das so deutlich formuliere? Weil es uns beim nächsten zornigen alten Mann vielleicht hilft, ein wenig entspannter zu bleiben. Mein ganz persönliches Mantra in solchen Minuten lautet: Niemand hat gesagt, dass Demokratie schmerzfrei sein muss.
Oder frei nach Lehrer „Schnauz“ aus der legendären Feuerzangenbowle:
„Mit der Demokratie ist es wie mit der Medizin. Sie muss bitter schmecken, sonst nützt sie nichts“
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer