Ausgabe #43 | 22. Oktober 2020
Demokratie in der Pandemie
Im Deutschen Bundestag herrscht Unruhe. Viele Abgeordnete sind unzufrieden, bis weit in die Regierungsfraktionen hinein. Es geht um Beteiligung. Konkret: um zu wenig Beteiligung. Exakt: Um zu wenig Beteiligung im Rahmen des Corona-Krisenmanagements.
Rund zwei Drittel der Bürger*innen wünschen sich laut einer vom SPIEGEL beauftragten Studie mehr Mitsprache und Einfluss in der Coronakrise.
Stopp.
An dieser Stelle sollten wir vielleicht ein mögliches Missverständnis aufklären. Es geht nicht um die Beteiligung der Bürger*innen, also den von den politischen Maßnahmen Betroffenen, sondern um die Beteiligung des Parlaments.
Die Frage nach der Bürgerbeteiligung wurde vom SPIEGEL gar nicht erst gestellt.
Betrachten wir die Situation also etwas genauer, dann gewinnen wir schnell den Eindruck, dass irgendwann in den letzten Monaten im demokratischen Koordinatensystem irgendetwas verrutscht sein könnte.
Das höchste Gremium unserer repräsentativen Demokratie, das eigentlich für die gesetzgeberische Rahmensetzung unserer Gesellschaft zuständig ist, wird plötzlich als Beteiligungsformat an exekutiven Entscheidungen gesehen.
Beteiligen soll die Exekutive als Organ, das eigentlich nur im vom Parlament gesetzten Rahmen agieren kann.
Trotz zahlreicher Mahnungen, Empfehlungen und auch Versprechen gibt es jedoch keine Debatte über die Frage, wie das Krisenmanagement mehr Wirkung entfalten könnte, indem es diejenigen beteiligt, die davon betroffen sind. Die Bürger*innen, die Beschäftigten im Gesundheitswesen, die Mitarbeiter*innen der Gesundheitsämter und der Ordnungskräfte, die Freiberufler*innen und Soloselbständigen, die Gastronomen und all die anderen Menschen da draußen in der Republik, die große Zukunftsängste haben und keine Mitspracheangebote wahrnehmen, die als einzige Handlungsmöglichkeit das Horten von Toilettenpapier praktizieren können.
Gleichzeitig gibt es tatsächlich erstmals auf Bundesebene ein spannendes Beteiligungsangebot: Für einige wenige ausgeloste Bürger*innen in Form eines Bürgerrates. Thema: „Deutschlands Rolle in der Welt“.
So sehr dieser Einstig in bundesweite Bürgerbeteiligung zu begrüßen ist, so interessant es ist, über „Deutschlands Rolle in der Welt“ zu sprechen, so sinnvoll wäre es, nicht nur im Parlament, sondern mit den Bürger*innen über die Pandemiemaßnahmen zu diskutieren.
Die Frage sollten wir uns gönnen: Reden wir möglicherweise in den falschen Strukturen über die falschen Themen?
Der Deutsche Bundestag ist kein Beteiligungsformat der Bundesregierung. Er ist unser höchstes demokratisches Organ. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat dies am vergangenen Montag zurecht angemahnt. Er forderte, „dass der Bundestag seine Rolle als Gesetzgeber und öffentliches Forum deutlich machen muss“.
Wieder einmal hat Schäuble es auf den Punkt gebracht. Nur sollte statt des Punktes ein Komma stehen. Denn die „Zweite Coronawelle“ ist da. Heute hatten wir erstmals eine fünfstellige Zahl von positiv getesteten Menschen. Drastischere Maßnahmen werden diskutiert. Aber eben nicht MIT den Menschen. An diese wird appelliert, es wird angeordnet und es wird sanktioniert. Das alles klingt mehr nach Schule als nach Demokratie.
Kommen dann noch die umfangreichen und oft höchst realen Existenzängste vieler Betroffener hinzu, dann brauchen wir uns über eine weitere Verrohung der Debatten nicht zu wundern. Das ist keine Entschuldigung dafür, Schadenfreude über die Corona-Ansteckung von Gesundheitsminister Spahn zu äußern, ohne Masken aber dafür mit Nazis zu demonstrieren oder Polizisten zu bespucken. Aber es ist Teil der Erklärung. Nicht alle Menschen, die sich so verhalten, sind über Nacht zu Rechtsradikalen oder „Covidioten“ mutiert. Wollen wir diese Entwicklung nicht weiter forcieren, brauchen wir mehr Debatten, gerne im Parlament, aber eben nicht nur.
Ein Bürgerrat zum Thema „Umgang mit Corona“ wäre da sicher eine Idee. Vermutlich braucht es jedoch nicht nur ein solches Format, sondern viele Beteiligungsangebote vor Ort in den Kommunen – mit welchem schönen Titel auch immer. Das Etikett ist dabei unwichtig.
Der Dialog ist es, den wir brauchen. Denn sonst bringt Corona nicht nur unser Gesundheitswesen zur Implosion, sondern gefährdet auch unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt.
Deshalb: Bleiben Sie gesund!