Ausgabe #46 | 12. November 2020
Die Faszination der Ungleichzeitigkeit
Die deutsche Novemberrevolution 1918 führte zum Sturz der Monarchie im Deutschen Reich und zu dessen Umwandlung in die erste parlamentarische Demokratie auf deutschem Boden.
Ein Trauma, das viele Antidemokrat*innen bis heute nicht überwunden haben. Nicht ohne Grund sieht man auf zahlreichen Kundgebungen immer wieder Reichs- und sogar Reichskriegsflaggen. Sie mahnen uns, dass Geschichte durchaus umkehrbar sein kann.
Doch darum soll es heute nicht gehen. Sondern um ein anderes Phänomen, das bereits 1918 für eine interessante Entwicklung sorgte.
Denn die Deutsche Novemberrevolution begann mit einem Versehen.
Führer der Revolutionäre aus dem Königreich Württemberg weilten Anfang November in Berlin, wo unter Spartakisten um Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg hitzig diskutiert wurde. War die Zeit reif für eine Revolution oder nicht?
Eine Mehrheit war dafür, am 4. November mit einem landesweiten Generalstreik loszuschlagen. Der verantwortliche Stuttgarter Genosse reiste ab, denn die Fahrt quer durch das Reich in den tiefen Süden war lang.
Nach seinem Aufbruch kippe die Debatte und es wurde letztlich der 11. November beschlossen. Es war zu spät, die süddeutschen Revolutionäre zu verständigen und so begann die Novemberrevolution tatsächlich in Stuttgart, früher als in Berlin, mit schwäbischer Pünktlichkeit am 4. November. Doch damit standen die Schwaben allein. Sie wäre vermutlich krachend gescheitert, wäre nicht zwei Tage danach der Kieler Matrosenaufstand reichsweit als Fanal und Auslöser der Revolution bekannt geworden.
Den Rest der Geschichte kennen wir.
Diese weitgehend unbekannte historische Episode zeigt uns jedoch, wie essentiell die Frage der Gleichzeitigkeit in gesellschaftlichen Fragen ist. Oft ist nicht nur die Reihenfolge von Ereignissen wichtig für historische Wendepunkte, sondern auch die Frage, welche davon weitgehend synchron stattfinden.
Das Problem der Akteure vor rund 100 Jahren waren die nicht vorhandenen Kommunikationskanäle. Ein einfaches Handy in der Tasche des Genossen Hauschka im Zug von Berlin nach Stuttgart hätte genügt. Doch vor 100 Jahren gab es faktisch keine Möglichkeit der Echtzeitkommunikation für Nichtprivilegierte.
Hätte es damals schon WhatsApp gegeben, die Revolution wäre sicher anders verlaufen.
Heute nutzen Widerstandsbewegungen wie in Hongkong oder Weißrussland das Internet wie selbstverständlich für die Organisation, die Abstimmung und die Synchronisation von Aktionen. Die Digitalisierung hat diese Möglichkeiten geschaffen. Hat sie also zu mehr Synchronität beigetragen?
Die Antwort mag überraschen. Sie lautet: Nein.
Insbesondere für unsere Diskurskultur ist das Gegenteil richtig. Und das ist gefährlich.
Tatsächlich hat die Digitalisierung, weitgehend unbeachtet, große Teile unseres Alltagslebens durch Asynchronität individualisiert.
Die heute 50-jährigen saßen oft noch jeden Samstag zu Hause mit der gesamten Familie auf der Couch, um die große Fernsehshow auf einem der beiden TV-Kanäle zu sehen. Am Montag war sie dann Thema in der Schule. Denn man konnte sich darauf verlassen, dass so gut wie alle gleichzeitig das gleiche TV-Erlebnis hatten. Heute streamen wir was wir wollen, wann wir wollen.
Gab es früher politische Diskurse nur bei Veranstaltungen oder in anderen Formen des physischen Zusammenseins, so sind heute Online-Foren oder gar von Algorithmen gesteuerte Social-Media-Kanäle der Ort der Debatte. Dort bleiben wir nicht nur häufig unter „Ähnlichdenkenden“, sondern wir führen die Debatte asynchron.
Auch wenn wir mit unseren Smartphones eigentlich jederzeit jemanden anrufen könnten, verschicken wir lieber eine WhatsApp-Sprachnachricht. Erst gestern hatte ich ein solches Gespräch mit einem befreundeten CEO. Insgesamt schickten wir uns in 20 Minuten 17 Sprachnachrichten. Telefoniert haben wir nicht. Warum nicht? Weil wir die damit verbundenen Optionen schätzen:
Wir reagieren wann wir wollen – sofort, später oder gar nicht.
Die letzten beiden Optionen gibt es im persönlichen Diskurs nicht. Und es gibt auch keinen „digitalen Filter“. Emotionen werden nicht unmittelbar zurückgespiegelt, Beleidigungen und Verletzungen in ihrer Wirkung unterschätzt und weitaus seltener sofort sanktioniert.
Das ist bequem, nicht nur, weil es weniger Aufwand bedarf, als persönliche Treffen und Debatten. Vor allem deshalb, weil es vermeintlich schmerzfreier ist. Wir glauben, so besser dosieren zu können, wen und was wir wirklich zur Kenntnis nehmen. Es macht gerade Meinungsverschiedenheiten leichter verarbeitbar.
Das führt letztlich zu einem Effekt, den Spitzensportler*innen kennen: Wer sich sein Training leicht macht, baut ab.
Gleiches gilt auch für uns. Debattenfähigkeit ist kein Erbgut, sondern eine Kulturkompetenz. Das Aushalten von unmittelbarem Widerspruch, der Umgang mit anderen Meinungen, der wertschätzende Streit ist sogar eine ganz zentrale Kompetenz für eine lebendige und damit funktionierende Demokratie.
Offensichtlich sind wir gerade dabei, das zu verlernen. Viele der so genannten Querdenker*innen sind kaum noch fähig, wertschätzend mit Geradeausdenker*innen zu diskutieren. Sie wollen es auch gar nicht mehr.
Je mehr diese demokratische Streitfähigkeit abhanden kommt, desto wackeliger werden die Säulen unserer Demokratie. Die zunehmende Asynchronität unserer Debatten ist da sicher nicht die alleinige Ursache, aber sie ist ein treibender Faktor.
Noch hat die Demokratie keine wirksame Antwort auf die diversen kulturverändernden Einflüsse der Digitalisierung gefunden. Doch wie könnten diese aussehen? Die dank Corona dramatisch steigenden Videokonferenzen sind tatsächlich ein solches Format. Doch bislang ersetzt es (ungenügend) reale Debatten. Ein wirklicher Mehrwert ist das also nicht.
Wir brauchen neue Ideen.
Haben Sie eine? Dann freue ich mich auf Ihre Vorschläge. Ich verspreche: Ich reagiere. Asynchron. Aber garantiert.