Ausgabe #47 | 19. November 2020
Lehren, Lernen oder Lassen?
Heute erzähle ich Ihnen eine kleine, wahre Geschichte aus dem Leben einer kleinen, echten Grundschule. Doch diese Geschichte ist nicht unpolitisch. Im Gegenteil. Deshalb bedarf sie einer kurzen politischen Einleitung.
Wir alle wissen: Unsere demokratischen Institutionen stehen unter Druck. Signifikante Teile unserer Bevölkerung sind nicht mehr bereit, die Prozesse, Akteure und Ergebnisse unserer repräsentativen Strukturen zu akzeptieren. Dabei handelt es sich beileibe nicht nur um Nazis oder „Covidioten“.
Bereits die Schulstreiks von Fridays4Future zeigten, dass auch in der jungen Generation die Bereitschaft, die Zukunftsgestaltung der Politik zu überlassen, sinkt. Unsere Institutionen und ihre Vertreter*innen werden von unterschiedlichen Gruppen bestreikt, beschimpft, bepöbelt.
Das sind Symptome für eine Erosion der demokratischen Kultur, nicht die Ursache.
Wir werden das Problem nicht lösen, wenn wir uns mit den Symptomen beschäftigen, noch dazu nur mit denen, die uns nerven. Sich über die Galgen aufzuregen, an denen eine Merkel-Puppe auf einer „Querdenker“-Demo baumelt, ist recht und billig. Aber der Lösung des Problems kommen wir damit keinen Schritt näher.
Interessant ist vor diesem Hintergrund der aktuell lauter werdende Ruf, unser Schulsystem müsse sich mehr darum kümmern, junge Menschen zu „Guten Bürger*innen“ zu erziehen.
Dieser Ruf kommt durchaus auch von wohlmeinenden Aktivist*innen. „Demokratiepädagogik“ müsse gefördert werden, ja sogar von einem „Schulfach Demokratie“ ist die Rede. Und damit sind durchaus moderne Ansätze verbunden. Kaum jemand denkt ernsthaft an eine Neuauflage der „Staatsbürgerkunde“ aus der untergegangenen DDR.
Wieder einmal soll es also die Schule richten. Sie muss ja neben einem immer umfangreicher werdenden Wissenstand der Gesellschaft zwischenzeitlich so ziemlich alles vermitteln, was unsere Familien heute aus durchaus nachvollziehbaren Gründen nicht mehr hinbekommen.
„Da geht es etwa auch um Verbraucherbildung, um gesunde Ernährung, um den Umgang mit Geld“, listet zum Beispiel der hessische Kultusminister in einem Interview mit der ZEIT auf ¬– nun also auch Demokratie.
Jetzt wird es Zeit für unsere kleine Geschichte.
Sie spielt in einer kleinen süddeutschen Landgemeinde. Die Grundschule dort ist einzügig, der Migrantenanteil liegt bei 0,2 %. Manche würden es eine schwäbische Idylle nennen. Eines Montags rücken plötzlich die Gemeindearbeiter*innen an und beginnen damit, im Schulhof Bäume zu fällen.
Die Schüler*innen sind entsetzt. Auf Nachfrage in der großen Pause bekommen sie die Info, der Bürgermeister habe angeordnet, sämtliche Bäume – darunter die hundertjährige Schulbuche – zu roden.
Ein Viertklässler, in dessen Familie Engagement zum Alltag gehört, hat sofort eine Idee. Binnen 15 Minuten setzt er mit einigen Klassenkamerad*innen eine kleine Unterschriftenliste auf, in der sie fordern, die Bäume stehen zu lassen. Bis Unterrichtsende haben sie exakt 100 % aller Schüler*innen zur Unterschrift bewogen, manche Erstklässler*innen unterschreiben zum ersten Mal in ihrem Leben ein Dokument. Da die Zeit drängt, pilgern sie zum Rathaus. Dort ist Mittagspause, also werfen sie die Liste in den Briefkasten.
Am nächsten Morgen versammelt der Schulleiter alle Schüler*innen in der Turnhalle. Denn am Vortag bekam der Bürgermeister die Liste auf den Tisch. Er griff umgehend zum Telefon. Sein Gespräch mit dem Schulleiter dauerte dem Vernehmen nach nur eine knappe Minute. Grundtenor: „Warum haben Sie Ihre Schüler*innen nicht im Griff?“ Die Bäume waren in dem Gespräch kein Thema.
Der Schulleiter hatte nun nur noch eine Mission: Die Rädelsführer*innen enttarnen. Dass die sich prompt freiwillig meldeten, brachte ihn aus dem Konzept. Die Strafpredigt ersparte es ihnen nicht: Es sei eine Unverschämtheit, sich an den Bürgermister zu wenden, ihn zu übergehen und überhaupt: Die Schüler*innen könnten gar nicht beurteilen, was die Gemeinde zu entscheiden habe.
Die Bäume? Wieder kein Thema.
Damit war die Sache für Bürgermeister und Schulleiter erledigt. Fast. Denn Sie ahnen es möglicherweise schon: Der Rädelsführer war mein Sohn, und die anschließenden Debatten für den Bürgermeister schmerzhaft. Zwischenzeitlich gibt es den Bürgermeister nicht mehr, der Schulleiter ist in Pension. Die Buche steht noch.
Doch darum soll es nicht gehen, uns interessiert nur eine Frage: Welche Botschaft kam bei den Schüler*innen an? Wir können es uns denken.
Engagementfördernd war das jedenfalls nicht. Dabei ist diese Geschichte nicht untypisch. Es gibt auch andere, weitaus positivere Erfahrungen. Aber die Grundfrage bleibt:
Wie soll eine Schule, deren Konzept mit Klassen, Hausaufgaben, Hierarchie und Struktur noch aus dem Kaiserreich stammt, junge Menschen zu Demokrat*innen erziehen? Kann sie das überhaupt?
Ja, das kann sie. Aber nicht, wenn sie Demokratie als Unterrichtsfach sieht. Egal, ob als eigenständige Schulstunde zwischen Mathematik und Deutsch gequetscht oder in den Gesellschaftskundeunterricht integriert:Demokratie ist kein Lehrfach.
Demokratie ist eine soziale Kompetenz. Die muss man trainieren, nicht aus Büchern lernen und in Klausuren nachweisen.
Wir sollten Probleme unserer institutionellen Demokratie nicht über die Institutionalisierung im Lehrplan angehen. Das würde bedeuten, mit dem Denken, das für das Problem verantwortlich ist, eine Lösung zu suchen.
Das funktioniert bekanntlich selten.
Ja, wir müssen als Gesellschaft dafür sorgen, dass junge (und nicht nur) Menschen deutlich mehr Demokratieerfahrung sammeln, als das bislang der Fall ist.
Es gibt in der Schule – und nicht nur dort – so viele Regeln des Miteinanders, die man ohne Probleme immer wieder neu verhandeln kann. Eine Schulordnung ist ein wunderbares Thema. Und keine Bange: Das endet nie in Anarchie, sondern immer in einer weitaus höheren Akzeptanz der gemeinsam vereinbarten Regeln. Das nämlich ist das Ergebnis gelebter Demokratie:
Zusammenhalt.
Da, wo das nicht mehr funktioniert, wo die Symptome hässlich werden, lautet die Diagnose in der Regel: zu wenig Demokratie, nicht zu viel.
Unser Fazit für heute wäre also: Demokratie sollte man nicht lehren – sondern praktizieren.
Und zwar in deutlich größerem Umfang als bisher.