Ausgabe #48 | 26. November 2020
Die Sache mit der Moral
Moral und Politik. Zwei Dinge, die nicht immer harmonisieren – ja, scheinbar zunehmend weniger zusammenpassen.
Und dennoch ist es gerade die Moral, die eine Gesellschaft zusammenhält.
Das gilt auch – und sogar ganz besonders für eine Demokratie. Egal, wie ausgefeilt die rechtsstaatliche Ordnung ist, wie hoch auch der Takt neu erlassener Gesetze und Verordnungen sein mag: Ohne Moral ist alles Nichts.
Sprechen wir also über Moral.
Doch was ist Moral nun wirklich? Wie wirkt sie sich in unserem Alltag aus?
Moral ist weiter nichts als die Haltung, die wir Leuten gegenüber einnehmen, gegen die wir eine persönliche Abneigung haben.
Oscar Wilde, irischer Schriftsteller
Moralische Werte sind von einer Gesellschaft befürwortete Verhaltensregeln. Moralisch zu handeln bedeutet also, sich sozial erwünscht zu verhalten.
Erwünscht ist dabei mehr als nur akzeptiert. Eine Gesellschaft hält nicht zusammen, was gerade noch so toleriert wird, sondern das, was als erstrebenswert, sozial, vorbildlich gilt.
Dabei ist Moral, das wissen wir längst, nicht nur eine Frage des Charakters oder der Erziehung, sondern auch der konkreten Umstände.
Anonymität zum Beispiel begünstigt unmoralisches Verhalten.
Ein bekanntes Experiment dazu spielte sich in einer Hochschulkantine ab: Dort sollten die Student*innen das Geld für eine Tasse Kaffee in eine Kiste werfen. Im wöchentlichen Wechsel hingen entweder Bilder von Augen oder von Blumen über der Theke. Obwohl die „Beobachtung“ durch die Augenbilder nicht bewusst wahrgenommen wurde, bezahlten die Kaffeetrinker*innen in Augenwochen fast dreimal so viel für ihren Kaffee wie in Blumenwochen.
Auch Selbstwahrnehmung fördert moralisches Verhalten. Im sogenannten „Halloween-Experiment“ wurden die verkleideten Kinder in einem Raum allein gelassen. Sie durften sich je eine Süßigkeit aus einer Schale nehmen. War ein Spiegel über der Schale angebracht, nahmen die meisten tatsächlich nur ein Teil. Ohne Spiegel landeten mehrere Teile in ihren Tüten.
Doch nicht nur Kinder handeln unter erhöhter Selbstwahrnehmung moralischer. Forscher*innen fanden in Zusammenarbeit mit einer Versicherung heraus, dass Menschen ehrlicher sind, wenn sie bereits vor dem Ausfüllen von Formularen oberhalb der freien Felder unterschreiben.
Moral ist also offensichtlich nichts Absolutes, sondern eine in hohem Maße sozial definierte und durch soziale (auch Selbst-)Kontrolle geförderte Verhaltensmaxime.
Vor diesem Hintergrund verwundert es wenig, dass moralisches Verhalten in den (scheinbar) anonymen Tiefen des Internets zunehmend weniger ausgeprägt ist – und sich Menschen dort teilweise erheblich weniger moralisch verhalten, als im realen Leben.
Das betrifft längst nicht mehr nur einzelne Kommentare, sondern ist in unser aller Rezeptionsverhalten übergegangen. Wir gehen grundsätzlich davon aus, dass Informationen im Internet nicht unbedingt mit der Wahrheit korrespondieren.
Dabei wird diese Prämisse interessanterweise auch seriösen Medien entgegengebracht, die wir zuvor jahrzehntelang als Perlen des Qualitätsjournalismus respektierten, oder um es verkürzt zu sagen:
Eine Meldung auf tagesschau.de hat in etwa die gleichen Chancen wie ein Tweet von Donald Trump. Im Grunde hat die Lüge es sogar leichter als die Wahrheit, denn sie ist oft näher an dem, was wir glauben wollen.
Doch das Internet ist natürlich kein komplett moralfreier Raum. Und es ist längst nicht der einzige Bereich, in dem die Moral es schwer hat.
Ich weiß: Der Übergang kommt etwas brutal. Doch er ist begründet. Deutschland ist, und darauf können wir zurecht stolz sein, zunächst einmal ein Rechtsstaat. Die Parlamente setzen Recht, erlassen Gesetze und Verordnungen. Die untergeordneten Verwaltungen setzen sie um. Sie haben dabei hin und wieder „Ermessensspielraum“, aber in der Regel zählt es zu den Kardinaltugenden unserer Beamtenschaft, das verlässlich umzusetzen, was die gewählte Legislative vorgibt.
Es wird von den einzelnen Beamt*innen nicht erwartet – und es wird auch nicht toleriert – dass diese moralische Abwägungen treffen. Wer als Flüchtling nicht die nötigen Voraussetzungen erfüllt, bekommt kein Asyl gewährt. Wer seine Steuern nicht zahlt, den knöpft sich das Finanzamt vor. Egal ob die Tochter Leukämie hat, der Geschäftspartner mit der Kasse durchgebrannt ist oder ein anderer Schicksalsschlag vorliegt. Die Konsequenz, mit der die geltenden Regeln umgesetzt werden, führt dabei manchmal zu unglaublichen Erlebnissen.
Die NDR Sendung extra 3 integriert seit Jahren Woche für Woche ein wunderschönes kleines Videoformat: „Realer Irrsinn“. Dort werden hanebüchene Auswüchse von meist rechtlich hundertprozentig korrektem Verwaltungshandeln auf die Schippe genommen. Dabei sind Klassiker der öffentlichen Mittelverschwendung Bahnhöfe ohne Gleisanschluss, Brücken ohne Zufahrt oder Brunnen ohne Wasseranschluss.
Manchmal bleibt einem das Lachen aber auch im Halse stecken. Wenn plötzlich Anwohner*innen für eine Straße, die sie weder brauchen noch nutzen können, 240.000 Euro zahlen sollen oder Einzelhändler*innen der Ladeneingang mit einer Mauer verbaut wird. Da werden Existenzen vernichtet.
Ist das an sich schon grausam genug, sind die Antworten der dazu befragten Verantwortlichen besonders gruselig: In praktisch jedem einzelnen Fall ist nicht mal der Hauch eines Bedauerns oder Empathie für die Betroffenen zu spüren. Rechtlich korrekt. Basta.
Nun sind selbst 200 dieser Kurzfilme nicht zwangsläufig repräsentativ für unsere bundesrepublikanische Bürokratie. Aber sie arbeiten eines deutlich heraus: Verwaltungshandeln unterliegt strukturell nicht wirklich moralischen Abwägungen. Die haben – mehr oder weniger – intelligent und verantwortlich am Anfang der „Befehlskette“ stattgefunden. Die Verwaltung setzt um.
Dieses Prinzip wird dann besonders spannend, wenn Verwaltungshandeln auf Bürgerbeteiligung trifft. Dort führt das immer wieder verlässlich zu langen Debatten und tiefen Missverständnissen.
Und das ist gut so.
Denn genau darum geht es bei gesellschaftlicher Beteiligung an Prozessen, die Verwaltung „im Grunde auch ohne“ Beteiligung zuverlässig abarbeiten könnte. Es geht um moralische Maßstäbe. Es braucht eine Debatte darüber, wie sie aussehen, wie sie angelegt werden können und wie sie die Ergebnisse beeinflussen können, dürfen, sollen. Immer zeigt sich dabei: Moral ist nichts, was man in eine Verwaltungsvorschrift fassen könnte. Sie wird immer wieder neu hinterfragt und erarbeitet. Das ist mühsam, aber:
Es ist genau das, was unsere Gesellschaft braucht. Moralische Debatten können nicht alles lösen, ja führen häufig nicht einmal zu einem Konsens. Aber sie finden statt.
Genau das ist der Kitt, der Gemeinschaft bindet.
Diese Debatten machen nicht nur Verwaltungshandeln besser. Sie wirken auch auf Bürger*innenhandeln. Denn wir haben eingangs gesehen: Selbstwahrnehmung verstärkt moralisches Handeln, Anonymität bremst es aus.
Jede Minute, die wir also miteinander debattieren, statt im Internet in unseren sozialen Blasen zu baden, hat einen doppelt positiven Effekt.
Von diesen Effekten brauchen wir gerade eine ganze Menge.