Ausgabe #52 | 31. Dezember 2020
Schämen Sie sich!
„Schämen Sie sich!“ rief der AFD-Abgeordnete Karsten Hilse im Bundestag – und bezog sich auf die Vorhaben zur Bekämpfung der Corona-Pandemie.
„Schämen Sie sich!“ rief der AFD-Abgeordnete Stefan Keuter – und meinte damit einen Antrag zur Erhöhung der Abgeordneten-Diäten.
„Schämen Sie sich!“ rief der AFD-Abgeordnete Stephan Brandner – weil die Politiker*innen der anderen Parteien keinen AFD-Vertreter als Bundestagsvizepräsidenten wählen wollten.
Generell ist die AFD-Fraktion jene mit den meisten Scham-Aufrufen im Parlament, zwischenzeitig liegt sie satt im dreistelligen Bereich. Das lassen die anderen Parteien nicht auf sich sitzen. Anton Hofreiter von den Grünen reagierte auf einen AFD-Redner, der vor „Klein-Anatolien“ in Deutschland warnte und die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz (SPD), ein „Musterbeispiel misslungener Integration“ nannte, mit, Sie ahnen es bereits: „Schämen Sie sich!“
Auch unser Innenminister Horst Seehofer (CSU) kommentierte solche AFD-Äußerungen mit „Sie sollten sich schämen“, sekundiert vom SPD-Angeordneten Sebastian Hartmann: „Schämen Sie sich nicht, 75 Jahre nach Auschwitz…“
Im aktuellen Deutschen Bundestag ist die Aufforderung zur Scham quasi eine rhetorische Alltagsfloskel geworden. Natürlich in der Regel ohne jede Wirkung beim Adressaten. Was wiederum dazu führt, dass je nach politischem Lager die jeweilige Konkurrenz für eine zunehmende „Schamlosigkeit“ im öffentlichen Leben verantwortlich gemacht wird.
Zu beobachten ist dies auch in öffentlichen Veranstaltungen, in denen Bürgerinnen und Bürger zu Wort kommen. Die Verrohung der Debatte hat, das berichten Praktiker*innen auf allen Ebenen, in den vergangenen Jahren signifikant zugenommen. Beleidigungen, rüde Schimpfwörter, purer Egoismus sind beinahe in jeder Veranstaltung zu hören, parallel dazu Plakate auf Demos immer wieder jenseits der Grenze zwischen Meinungsäußerung und Straftat.
Wollten Anwohner*innen noch vor einer Generation eine Industrieansiedlung vor der eigenen Haustüre verhindern, mussten gemeinwohlorientierte Argumente her. Meist waren es Umweltschutzaspekte, die solche Vorhaben zu Fall brachten. Heute reicht es, in einer Bürgerversammlung ins Mikro zu brüllen: „Mir ist scheißegal, wo die Fabrik hinkommt, Hauptsache nicht hier“ – um dafür donnernden Applaus zu ernten. Ist diese neue Schamlosigkeit also die Ursache für die Verrohung der Diskurse? Es mag so scheinen.
Tatsächlich spielt der Umgang mit Scham in einer Demokratie eine große Rolle. Doch ebenso, wie Schamlosigkeit spalten kann, kann auch Scham spalten. Denn Scham hat nicht nur etwas mit Moral zu tun, sondern auch mit Kompetenz. Das ist nicht neu. Zu allen Zeiten haben haben sich die Eliten vom gemeinen Volk vor allem durch unterschiedliche kulturelle Praktiken abgegrenzt. Dramaturgisch bis zur Satire übersteigert ist dies gerade in der aktuellen Netflix-Serie „Bridgerton“ zu bestaunen. Der britische Hochadel im 19. Jahrhundert ist dermaßen in Konventionen und Ritualen erstarrt, dass nur ein kleiner Fauxpas – das falsche Wort zur falschen Zeit an den falschen Menschen gerichtet – den Untergang einer Familie bedeutet kann. Wer in diesem ebenso anspruchsvollen wie absurden Spiel der kulturellen Kompetenzen nicht hochkonzentriert und fehlerfrei mithalten kann, ist schnell draußen aus dem engen Kreise der Machtvollen und Anerkannten.
Heute sind wir weiter, aufgeklärter, moderner, toleranter – glauben wir. Doch auch heute noch ist es so, dass große Teile der Bevölkerung nicht über die kulturellen Kompetenzen verfügen, die die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Eliten auszeichnen. Dabei geht es nicht um die Etikette eines Botschaftsempfangs, die richtige Ansprache einer Ministerin oder vergleichbare Dinge, mit denen die meisten Menschen in ihrem Leben niemals konfrontiert werden.
Wohl aber geht es um die Praktiken eines gefolgten politischen Streites: eine scharfe Argumentation in der Sache, begleitet von moderaten Formulierungen. Es geht um die Zerlegung gegnerischer Argumentationen ohne persönliche Beleidigung, um die klare Verdeutlichung von Positionen ohne Diffamierung, um wertschätzenden Streit.
Dies zu beherrschen ist keine genetische Disposition. Es ist eine kulturelle Praktik, die erlernt werden kann – und muss. Man lernt sie in der politischen Ochsentour durch Parteien, im Philosophie-Studium – aber leider nicht in der Schule, im Berufsleben und kaum noch in der Familie. Überall wo nicht Argumente, sondern Hierarchien dominieren, gibt es keine Gelegenheit und keinen Anlass, diese Diskurs-Kompetenz zu trainieren. Wundern wir uns also nicht, wenn die Masse der Menschen diese Kompetenzen nicht auf hohem Niveau beherrscht.Das aber führt schnell zu Scham. Scham, der eine Teilnahme am öffentlichen Diskurs verhindert.
Eine zweite Art von Scham kommt noch hinzu, verstärkt diesen häufig noch, weil es die gleichen Bevölkerungsgruppen betrifft: Die Scham, in der modernen, leistungs- und einkommensorientierten Gesellschaft abgehängt zu sein. Arlie Russell Hochschild, Professorin für Soziologie an der University of California, hat dies für die amerikanischen Trump-Wähler*innen sehr gut herausgearbeitet: Seit den Siebzigerjahren hat die Globalisierung Gewinner*innen und Verlierer*innen produziert. Die Gewinner*innen sitzen in den großen Städten, sie haben einen Universitätsabschluss und genießen hohe Bildung. Die Verlierer*innen dagegen leben in kleinen Gemeinden auf dem Land. Sie sind weniger gebildet und arbeiten in Firmen, die zunehmend nach China oder Mexiko abwandern. Die Arbeiter*innen haben Angst um ihre Zukunft, und sie spüren eine tiefe Scham, weil sie merken, dass sie abgehängt werden. Donald Trump hat diese Scham erkannt. Und er schafft es, sie ihnen zu nehmen. Er präsentiert Schuldige (Schwarze, Demokraten, Medien) und er macht Schamlosigkeit zu einer politischen Waffe.
Hat man dieses Prinzip erst einmal verstanden, wird einem auch klar, warum jeder neue Regel- und Stilbruch von Trump seine Position bei vielen Amerikanern festigt, statt sie zu schwächen.
Wahrheit, Fairness, ja Menschlichkeit bleiben dabei schnell auf der Strecke. Methoden, mit denen auch eine AFD in Deutschland erfolgreich operiert: Sie nimmt denen die Scham, die sich bislang am öffentlichen Diskurs, oft nicht einmal an Wahlen, beteiligt haben. Eben deshalb ist ein „Schämen Sie sich!“ schnell gesagt und wenig hilfreich. Schamlose Populisten können nur dann erfolgreich sein, wenn große Teile der Bevölkerung eben von solchen Schamgefühlen am Diskurs gehindert werden.
Auch bei den von Beteiligungsexpert*innen so genannten „Stillen Gruppen“ spielt oft Scham eine unterschätzte Rolle. Sie ist ein großes Thema längst nicht nur bei Migrant*innen, wo häufig noch eine Sprachbarriere hinzu kommt. Viele Menschen nehmen deshalb öffentliche Angebote entweder gar nicht erst wahr – oder sie kommen nur als „stille Zuhörer“. Die Bühne gehört dann den „Schamlosen“. Häufig Akteure, die den wertschätzenden Diskurs ebenso wenig beherrschen – die aber eine weitaus geringere Schamschwelle haben.
Tatsächlich sollten wir diese „Schamlosen“ jedoch nicht als „Störer“ abqualifizieren. Wir sollten ihnen vielmehr dankbar sein. Am richtigen Umgang mit ihnen entscheidet sich häufig zu Beginn einer Debatte, wie viele der Anwesenden sich im Verlauf ernsthaft einbringen. Dieser „richtige“ Umgang ist nicht ganz einfach: Werden „unqualifizierte“ Beitragende einfach abgebügelt, hemmt das viele andere, die sich nicht kompetent genug fühlen, ihren Standpunkt darzulegen, ohne in politisch inkorrekte Fettnäpfchen zu treten. Dominiert andererseits Pöbeln die Debatte, wird keine wertschätzende Atmosphäre entstehen können.
Der Umgang mit Schamlosigkeit in der demokratischen Debatte ist also nicht einfach. Was auf jeden Fall zu einfach ist: Die Schamlosigkeit zur Ursache des Problems zu erklären. Das ist sie nicht. Sie ist der Versuch, gläserne Schranken der Demokratie zu überwinden. Manchmal ein perfider Versuch, oft nur ein ungeschickter. Unter dem Strich tut es nicht nur jeder Diskussion, sondern auch unserer Demokratie in Gänze gut, wenn wir uns weniger über Stilfragen empören, sondern mehr um Inhalte streiten. Denn tatsächlich ist Empörung zwar oft wohlfeil, aber unter dem Strich tendenziell nicht wirklich demokratisch.
Langfristig gilt: Je mehr wir miteinander streiten, desto weniger müssen wir uns empören.