Ausgabe #68 | 22. April 2021
Nicht wozu – sondern warum?
„Der Sommer wieder mit seiner Selbstwirksamkeit,“ fuhr mich neulich ein Teilnehmer eines Online-Symposiums an. „Ich kann’s nicht mehr hören.“
Gut, für den armen Mann gelten mildernde Umstände.
Immerhin ist er Chef eines Unternehmerverbandes. Als solcher ist er Beteiligung gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber für ihn geht es dabei vor allem um Akzeptanz für große Bauvorhaben. Denn das ist seine Branche. Er hat in der Vergangenheit gelernt, dass es ohne Beteiligung selten gut ausgeht. Also ist er ein echter Beteiligungsfan geworden.
Aber sein Verhältnis zur Partizipation ist ein operatives. Als kühl kalkulierender Unternehmer hat er Ziele und Ressourcen im Blick. Und wenn der Einsatz von Beteiligung unter dem Strich Ressourcen spart, dann ist alles gut. Was ihn also interessiert, ist Akzeptanz.
Und das ist völlig legitim.
Nach vielen Jahren Ringen um mehr politische Teilhabe bin ich bescheiden geworden. Und genauso kühl kalkulierend wie mein Freund aus der Braubranche. Wenn Beteiligung gut gemacht ist, interessieren mich die Motive wenig. Und doch geht es uns Demokrat*innen am Ende nicht primär darum, ob ein Infrastrukturprojekt jetzt etwas schneller, konfliktärmer oder kostengünstiger realisiert werden kann. Unser Interesse ist die Stabilisierung einer unter massiven Druck geratenen Demokratie. Und das erreichen wir nicht durch die Beschleunigung von Großprojekten, sondern durch ganz andere Dinge.
Eine Demokratie braucht keine Beschleunigung. Sie braucht keine neuen Gremien, keine immer neuen Wahlrechtsreformen. Demokratie ist kein Regierungsformat, sondern eine politische Kultur. Keine Institution, keine Verfassung, keine Partei kann eine Demokratie retten, die keine Massenbasis hat.
Eine Demokratie braucht daher vor allem eines: Demokrat*innen.
Menschen, die in einer Demokratie leben, weil sie das wollen, nicht weil sie das müssen. Menschen, die den demokratischen Diskurs nicht als notwendiges Übel sehen, nicht als Zuschauer*innen verfolgen, sondern für die einzig akzeptable Grundlage von politischer Gestaltung halten. Wer eine Demokratie schützen will, muss sich dafür einsetzen, dass es (mehr) Demokrat*innen gibt.
In der Geschichte der Menschheit ist Demokratie eine verhältnismäßig junge und ungewöhnlich erfolgreiche Gesellschaftsform. Wir halten sie heute für „natürlich“. Doch das war sie über weite Strecken der Geschichte nicht – und sie ist es auch heute nicht.
Es gibt kein Demokratie-Gen. Demokrat*in wird man nicht durch Vererbung, auch nicht, indem man in einer Demokratie geboren wird. Genauso wenig wird man Demokrat*in durch Gesetz, Verordnung oder Verfassung.
Demokratie ist eine Frage der Haltung. Haltung aber ist keine Frage der Verordnung oder der Gene – und auch nicht der Lehre. Sie erwächst aus Erfahrung. Demokrat*in wird man nicht durch das Studium von Büchern und das Hören von Vorträgen, sondern allein durch praktisches Handeln. Das heißt konkret: durch die Erfahrung demokratischer Selbstwirksamkeit.
Da ist er wieder.
Der Sommer mit seiner Selbstwirksamkeit. Das nervt. Und das ist nötig. Denn die entscheidende Frage ist nicht, WOZU wir beteiligen, sondern WARUM.
Das Konzept der Selbstwirksamkeit wurde bereits vor rund 40 Jahren vom kanadischen Psychologen Albert Bandura entwickelt. Im Kern geht es dabei um die Überzeugung, sich in einem konkreten Umfeld wirksam einbringen zu können. Diese Überzeugung kann nur auf eine Art wachsen: durch persönliche Erfahrung. Nur wenn ich immer wieder solche demokratischen Selbstwirksamkeitserfahrungen mache, kann ich mich auch dann zu dieser Demokratie bekennen, wenn ich mich nicht durchsetzen kann.
Und genau das ist ein wesentliches Element unserer aktuell beklagten Demokratieschwäche: Feinde der Demokratie gibt es immer. Eine starke Demokratie kann sie aushalten, ihnen sogar maximale demokratische Rechte einräumen. Gefährlich wird es erst dann, wenn die Massen das Interesse an der Demokratie verlieren.
Eine Demokratie stirbt nicht durch Gegner*innen, sondern durch Gleichgültigkeit.
Diese Gleichgültigkeit entsteht, wenn demokratische Selbstwirksamkeitserfahrungen ausbleiben. Diese Erfahrungen kommen in unserer Gesellschaft aktuell zu kurz. In der Schule, am Arbeitsplatz, in weiten Teilen des Alltages erleben wir demokratische Selbstwirksamkeit nur in seltenen Fällen. Finden diese Erlebnisse nicht statt, verlieren die Menschen den Bezug zur Demokratie.
Genau deshalb „nervt der Sommer ständig mit seiner Selbstwirksamkeit“. Weil Beteiligung, die Akzeptanz schafft, nur dann wirklich zur Stärkung der Demokratie beiträgt, wenn sie auch Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Ansonsten braucht sie vielleicht der Vorhabenträger, aber nicht der Demokrat. Das Schöne an der Sache ist jedoch: Die Motive der Beteiligenden sind den meisten Prozessen am Ende herzlich egal. Sind sie gut gemacht, bleiben die Selbstwirksamkeitserfahrungen nicht aus. Und wie gut gemacht geht, das wissen wir zwischenzeitlich sehr gut.
Deshalb gilt ganz unabhängig von den Motiven: Gute Beteiligung ist auch gut für die Demokratie. Mehr Gute Beteiligung ist noch besser. Es gibt schlicht keine Alternative und keine Abkürzung:
Demokratie muss praktiziert werden. Sonst stirbt sie.
Was verstehen Sie unter demokratischer Selbstwirksamkeitserfahrung? Es gibt so viele Möglichkeiten, seine Rechte auszuüben. Beginnt es nicht dort, wo wir mehr über unsere Rechte wissen, uns diese wieder bewusst zu machen und lernen/anfangen, diese auch auszuüben (und nicht nur zu jammern). Das bedeutet auch, als Individuum aus der Masse hervortreten.