Ausgabe #7 | 13. Februar 2020
Was ist ein Beteiligungsimpuls?
Seit einigen Jahren wandelt sich die politische Kultur in unserem Land.
Zum einen verrohen die Sitten. Beschimpfungen, Drohungen, Überfälle und Anschläge sind längst keine Ausnahmen mehr. Im Schnitt drei Mal am Tag werden laut einer Statistik des Deutschen Städtetages Kommunalpolitiker angegriffen.
Gelichzeitig entstehen immer neue Möglichkeiten der politischen Beteiligung. Neue partizipative Formate eröffnen Möglichkeiten, mitzuwirken und mitzuentscheiden. Bürgerbeteiligung ergänzt zunehmend die traditionellen und repräsentativen Verfahren wie etwa das Engagement in politischen Parteien oder die Teilnahme an Wahlen.
Viele Stadtentwicklungs- oder Infrastrukturprojekte versuchen inzwischen, eine möglichst breite Beteiligung der Bürger zu gewährleisten. Das ist gut.
Doch entstehen dabei auch neue Herausforderungen.
Gerade in relativ offenen Beteiligungsformaten beobachten wir, dass bestimmte Milieus regelmäßig nicht nur zahlenmäßig überrepräsentiert sind, sondern auch inhaltlich dominieren.
Breite Beteiligung ist deshalb mehr als der Anspruch, möglichst viele Menschen zu beteiligen.
Die Allianz Vielfältige Demokratie schreibt deshalb in Ihrem Wegweiser Breite Bürgerbeteiligung:
„Breite Beteiligung misst sich nicht an der reinen Anzahl derer, die mitmachen. Vielmehr ist eine Beteiligung dann breit, wenn alle Interessen, Meinungen und Ideen, die es in einer politischen Gemeinschaft gibt, möglichst gut abgebildet sind. Vielfalt statt Vielzahl lautet die Devise. Breite Beteiligung folgt somit dem Grundsatz der Inklusivität: Die ohnehin Aktiven und Integrierten, die formal Gebildeten und mittleren Altersgruppen sollen nicht überrepräsentiert sein. Sondern es sollen alle Gruppen angemessen vertreten sein, die die Entscheidung etwas angeht – auch jene, die ihre Stimme sonst eher selten erheben oder schwer erheben können. Breite Beteiligung öffnet sich demnach nicht nur uneingeschränkt für alle Bürger, sie fördert sogar aktiv die Teilnahme beteiligungsferner Gruppen…“
Doch um welche Gruppen handelt es sich?
Ganz einfach ist diese Frage nicht zu beantworten. In der Praxis beobachten wir, dass insbesondere folgende Gruppen in offenen Formaten tendenziell eher unterrepräsentiert sind: Junge Menschen und Senioren, Menschen mit niedrigem Einkommen und/oder niedrigem formalem Bildungsabschluss, Migranten, Außendienst-, Leih- und Schichtarbeitnehmer. Diese Liste ist nicht vollständig und die „Beteiligungsferne“ der einzelnen Gruppen ist auch nicht homogen.
Hinzu kommen politische Einstellungen.
Eine Studie des Sinus Institutes im Auftrag des Bundesverbandes für Wohnen und Stadtentwicklung e.V. (vhw) zur Skepsis gegenüber Politik und Verwaltung erbrachte interessante Ergebnisse: Demnach sind besonders innovative Milieus deutlich skeptischer als eher Traditionell-Konservative Milieus.
Das direkt in Beteiligungsbereitschaft zu übersetzen, wäre etwas gewagt. Es deckt sich aber mit der Beobachtung, dass Bürgerbeteiligung besonders leicht Menschen anspricht, die sich als Bestandteil der bürgerlichen Gesellschaft definieren.
Beteiligungsbereitschaft ist also durchaus eine Milieufrage. Allerdings wird dieser Faktor gerne überbewertet. Den Beteiligungsbereitschaft entsteht nicht aufgrund von Religion, Bildungsgrad oder Kontostand, sondern durch Beteiligungsimpulse.
Ein Beteiligungsimpuls entsteht aus mehreren Faktoren. Am Anfang steht die Information. Das klingt lapidar, ist es aber nicht. Wer nicht weiß, dass, wie, wo, wozu und mit welcher Wirkung er sich beteiligen kann, wird dies auch nicht tun. Immer wieder wird zu kommunalen Beteiligungsprojekten lediglich über das Gemeindeblatt eingeladen – das aber erreicht nur einen Bruchteil der Einwohner.
Doch Information ist nicht alles.
Grundmotiv für Beteiligung ist stets die persönliche Betroffenheit. Und zwar die gefühlte Betroffenheit. Es beteiligt sich nicht, wer betroffen ist, sondern wer sich betroffen fühlt. Und das sind oft ganz andere Menschen, als eine Verwaltung zunächst auf dem Schirm hatte.
Zudem entsteht ein Beteiligungsimpuls nur, wenn auch ein glaubwürdiges Wirksamkeitsszenario vorliegt. Wenn nicht klar ist, ob die Beteiligung am Ende auch einen Einfluss generiert, wird Beteiligung unattraktiv. In diesem letzten Punkt greifen Kommunikation der Beteiliger und Erfahrungen bzw. Selbstwahrnehmung er Bürgerinnen und Bürger zusammen. Wer der deutschen Sprache kaum mächtig ist, wer bereits negative Erfahrungen mit wirkungsloser Beteiligung gemacht hat, der ist wenig geneigt, sich aktiv zu beteiligen, auch wenn er sich betroffen fühlt.
Die Sache mit der Beteiligungsbereitschaft ist also komplex.
Sie ist weit mehr als nur eine Milieufrage. Und deshalb sind alle Bemühungen gut und richtig, gezielt bestimmte Milieus anzusprechen. Doch wir müssen grundsätzlicher denken: Dauerhaft werden wir in unserem Land nur eine breite politische Beteiligung erreichen, wenn wir mehr Beteiligungsimpulse organisieren.
Das heißt: Beteiligung gut planen, breit kommunizieren, Betroffenheit erzeugen und vor allem Wirksamkeit sicherstellen. Die Erfahrung von Selbstwirksamkeit ist der zentrale Schlüssel, über alle gesellschaftlichen Milieus hinweg.
Mehr Selbstwirksamkeitserfahrung unserer Bürgerinnen und Bürger ist das Lebenselixier unserer Demokratie. Und sie kann so ganz nebenbei auch eine positive Wirkung gegen die zu Anfang geschilderte Verrohung der Sitten haben.
Herzlichst, Ihr Jörg Sommer