Ausgabe #76 | 17. Juni 2021
Konsens oder Kompromiss?
Nun haben es auch die GRÜNEN getan. Am vergangenen Wochenende wurde Annalena Baerbock nahezu einstimmig zur Kanzlerkandidatin bestimmt.
Der maximale Konsens sollte der Auftakt zu einer historischen Wende sein: Erstmals erscheint es zumindest denkbar, dass die ehemalige Protestpartei eine Bundesregierung anführt.
Diese Vision ist nicht für alle in unserem Land erträglich. Und so überrascht es nicht, dass die Schlammschlacht schon begann, bevor der Parteitag die Kanzlerkandidatin final abgesegnet hatte.
Ob ein aufgebretzelter Lebenslauf, zu spät gemeldetes Weihnachtsgeld, vermeintlich zu viele Änderungsanträge zum Wahlprogramm, angeblich absurde Spritpreisphantasien oder gleich völlig konstruierte Antisemitismusvorwürfe: Die Schmutzwahlkampfmaschine kam ins Rollen.
Wir haben einen Vorgeschmack auf das bekommen, was uns in den kommenden Monaten erwartet.
Je schmutziger ein Wahlkampf wird, desto lauter werden auch diesmal wieder die Rufe nach einem anderen, neuen Politikverständnis sein.
Wir kennen das aus der „großen“ Politik ebenso wie in kleinen, lokalen Beteiligungsformaten: Je ekliger eine Debatte wird, desto größer die Sehnsucht nach Friedfertigkeit und Konsens.
Das ist ebenso verständlich, wie gefährlich.
Denn Konsens wird nicht überbewertet, sondern regelmäßig unterschätzt: In seiner Gefahr für eine Gemeinschaft.
Das klingt erst einmal absurd. Interessanterweise aber nicht in allen gesellschaftlichen Bereichen. Im modernen Management ist es längst üblich, jedem Konsens zu misstrauen. Wenn alle einer Meinung sind, so ein gern kolportiertes Zitat, dann muss sie falsch sein. Dann da, wo es um bestmögliche Strategien und Ergebnisse geht – und nicht darum, die Beteiligten glücklich oder zu Freund*innen zu machen – setzt man besser auf Widerspruch, Diskurs und das Ringen um Alternativen.
Auch das ist im Wirtschaftsleben oft eher Fiktion und Anspruch, als Wirklichkeit. Denn dort herrschen autoritäre, vertikale Strukturen. Vorgesetzte entscheiden am Ende ohne demokratische Legitimation, dafür aber mit der Möglichkeit, die Umsetzung ihrer Entscheidung zu erzwingen.
Interessanterweise finden wir das nicht absurd, sondern normal. Wir verbringen einen großen Teil unserer Lebenszeit in Strukturen, in denen der Konsens verpönt ist und Demokratie abwesend.
Möglicherweise ist dies mit ein Grund dafür, dass wir dem Umkehrschluss erliegen, in den Lebensbereichen, in denen ein demokratischer Anspruch gelte, müsse deshalb der Konsens das höchste aller anzustrebenden Ziele sein.
Doch das ist nicht die Aufgabe einer Demokratie.
Gäbe es in allen Fragen Konsens, bräuchten wir sie gar nicht. Die Aufgabe von Demokratie ist nicht die Generierung von Konsensen, sondern ein gesellschaftsverträglicher Umgang mit Dissensen. Das ist heute wichtiger denn je.
Denn die Grundidee des gesellschaftlichen Konsenses ist deshalb gefährlich, weil sie mit identitärem Denken korrespondiert. Auch historisch sahen Verfechter*innen des Konsensstrebens regelmäßig Dissens und Vielfalt in einer Gesellschaft als „Störfaktor“.
Das ist philosophisch letztlich konsequent. Je homogener eine Gesellschaft oder Gruppe ist, desto realistischer ist die Herstellung von Konsens. Umgekehrt gilt: Wer Konsens zur Maxime erklärt, braucht zum Erfolg maximale Homogenität – und er erzeugt den entsprechenden Druck.
Eine Vielfältige Demokratie in einer offenen Gesellschaft scheut deshalb keinen Konsens, aber sie strebt ihn auch nicht an. Diverse Gesellschaften und Gruppen erkennen Dissense an, bearbeiten sie wertschätzend, suchen nach Lösungen, Interessenausgleich, ggf. auch Mehrheiten. Das ist selten schmerzfrei, immer von Frustrationen begleitet, manchmal schmutzig. Aber das ist nicht nur der Preis der Vielfalt und Freiheit, sondern auch Grundlage unserer Demokratie.
Die „Einheit im Dissens“, also der gemeinwohlorientierte Umgang mit Konflikten, ist der entscheidende Faktor für die Frage, wie stark eine Demokratie ist – und wie gut ein Beteiligungsprozess. Der Grad an Konsens ist es nicht.
Wenn wir uns also das nächste Mal über einen unfairen Angriff auf den oder die Kanzlerkandidat*in unserer Wahl ärgern – oder wenn der berühmte alte zornige Mann eine Bürger*innenversammlung nervt: Bleiben wir entspannt, sprechen wir darüber, wie wir eine bessere, wertschätzende Konfliktkultur etablieren können. Ringen wir darum.
Aber erliegen wir nicht der Versuchung, dem verführerisch süßen Duft des Konsensstrebens zu folgen.
Herrlich: Der „süße Duft des Konsensstrebens“. Vielen Dank Herr Sommer für Ihre wunderbaren Denkanstösse. Mir ist gerade erst klar geworden, dass unser Ziel, in unseren städtischen Beteiligungsformaten möglichst alles konsensual zu entscheiden, für einige Teilnehmer mit eher anderem Hintergrund einen erheblichen Anpassunsgstress auslösen kann. Das trägt sicher mit dazu bei, dass wir manche Gruppen nur schwer zur Teilnahem bewegen können – und sie oft wieder abspringen …