Ausgabe #80 | 15. Juli 2021
Erfolg braucht viele Väter – und Mütter
Kürzlich bekam ich die Ergebnisse einer interessanten Umfrage auf den Tisch. Es ging darum, wie Familien in der Pandemie die Herausforderung des homeschooling bewältigt haben. Die Zahlen brachten mich zum Schmunzeln.
Knapp die Hälfte aller Väter berichteten, dass sie den größten Teil des homeschooling übernommen hätten.
3% der Mütter stimmten dieser Aussage zu.
Natürlich wäre es spannend, herauszufinden, welche der beiden Gruppen näher an der Wirklichkeit liegt. Doch darum geht es heute gar nicht. Viel wichtiger ist die Erkenntnis:
Die meisten Menschen glauben, sie tragen am meisten bei.
Das sorgt für Komplikationen in Beziehungen, auch außerhalb von Pandemiezeiten. Es sorgt aber auch für Komplikationen in demokratischen Prozessen, in Teilhabestrukturen, in Beteiligungsformaten. Vor allem deshalb, weil diese Wahrnehmung in gewisser Weise sogar richtig ist.
Psycholog*innen haben dieses Phänomen längst untersucht. Es ist als egocentric bias bekannt und komplexer als es auf den ersten Blick aussieht. Aber es dominiert Diskurse weit mehr, als wir denken. Deshalb schauen wir es uns heute einmal etwas intensiver an – insbesondere im Hinblick auf Konsense, Konflikte und Diskurse in demokratischen Strukturen.
Immer wieder fragen Wissenschaftler*innen in unterschiedlichen Studien beteiligte Akteur*innen (zumeist in Teams der Arbeitswelt) nach ihrem jeweiligen Beitrag zum Endergebnis. In schöner Regelmäßigkeit liegt die Summe bei ungefähr 140%. Ähnliche Fragestellungen bei Paaren in Bezug auf ihren Beitrag zur Hausarbeit ergeben vergleichbare Ergebnisse – immer deutlich über 100%.
Und jetzt wird es spannend: Fragt man die Beteiligten danach, wie groß ihr Anteil an Störungen (in Teams) oder am Chaos in der Wohnung (bei Paaren) ist, landet sie Summe ebenfalls bei rund 140%.
Faktisch nehmen wir uns wichtiger, als wir sind – sowohl in Bezug auf unsere konstruktiven wie unsere destruktiven Einflüsse. Das ist auch nicht weiter verwunderlich: Schließlich nehmen wir 24 Stunden am Tag an unserem eigenen Leben teil, streifen die anderen aber immer nur kurz. Das Universum ist immer unser Universum. Es kreist um uns. Auch wenn wir wissen, dass gleichzeitig anderswo andere Menschen anderes erleben, so sind unsere eigenen Erlebnisse doch immer am eindrucksvollsten und nachhaltigsten.
Wenn wir jedoch – alle – glauben, wir würden mehr beitragen, als es tatsächlich der Fall ist, dann verbinden wir damit auch häufig den Anspruch, mehr Einfluss auf das Ergebnis reklamieren zu dürfen.
Spätestens jetzt ahnen wir, dass das für demokratische Diskurse eine echte Herausforderung darstellen kann – die nur selten wirklich reflektiert wird.
Wie also gehen wir mit dieser Situation um, bewältigen dadurch verursachte Konflikte und Störungen?
Erinnern Sie sich, dass ich eingangs schrieb, dass „diese Wahrnehmung in gewisser Weise sogar richtig ist“?
Tatsächlich tragen in solchen Prozessen, vor allem, wenn sie gut gestaltet sind, die einzelnen Akteur*innen in der Summe mehr als 100% bei. Nur fließt nicht jeder Beitrag wirklich in das Ergebnis ein. Das ist nicht nur gut so, das ist letztlich das Ziel Guter Beteiligung. Egal, ob man es am Ende Konsens oder Kompromiss nennt: Das Ergebnis ist nie die Summe aller Einzelbeiträge.
Entscheidend für die Qualität des Ergebnisses ist die Frage, wie demokratisch und wertschätzend die finalen 100% erarbeitet wurden. Entscheidend für die nachhaltige Akzeptanz der Ergebnisse und für deren demokratische Resilienz ist aber auch ein anderer, oft unberücksichtigter, Faktor: Der Umgang mit den „überschüssigen Prozenten“, also den Beiträgen, die sich im Endergebnis eben nicht wiederfinden.
Die Antwort darauf lautet – wieder einmal: Wertschätzung. Die Wertschätzung der Beitragenden im Prozess, selbst wenn ihr Beitrag schon auf den ersten Blick nicht mehrheitsfähig erscheint. Die Wertschätzung der Beiträge am Ende des Prozesses, ganz besonders dann, wenn sie keinen Konsens erzielten. Ob als Addendum zu einem „Bürgergutachten“, als Minderheitsvotum, als Auflistung weiterer Gedanken – wichtig ist, dass auch die „überschüssigen“ 40 oder mehr Prozent als ernsthafte Beiträge gewürdigt werden. Denn das sind sie auch. Die finalen 100% wären ohne diese 40% Mehrinput so nicht möglich gewesen. Das zu kommunizieren ist nicht nur fair, es erleichtert unter dem Strich auch die breite Akzeptanz der Ergebnisse.
Planen wir also unseren nächsten demokratischen Prozess, egal ob Diskurs in der Schulklasse oder mehrmonatiges Beteiligungsformat, sind wir gut beraten, nicht nur über die Ergebnissicherung nachzudenken, sondern auch über den Umgang mit Nicht-Ergebnissen.
Das gilt im Kleinen, wie im Großen. Wie Demokratien mit Minderheiten umgehen, ist der entscheidende Faktor für ihre Stärke.
Darüber sprechen wir in der kommenden Woche, wenn es um die „Kunst der Spaltung geht“. Dann betrachten wir eine zweite Ausprägung des egocentric bias. Diese führt nämlich regelmäßig dazu, dass das eigene Verhalten als weitverbreitet und normkonform angesehen wird, während das Verhalten anderer als selten oder unangemessen eingestuft wird. Doch das ist wie gesagt ein eigenes Thema.