Ausgabe #83 | 5. August 2021
Was man noch sagen darf
Der „Judenstern“ ist wieder in Mode.
Über 75 Jahre nach dem abrupten Ende des Holocausts ist er wieder auf deutschen Straßen zu sehen. Was hat es damit auf sich?
Ab 1941 mussten Personen, die nach den nationalsozialistischen Rassegesetzen („Nürnberger Gesetze“ von 1935) als Juden und Jüdinnen galten, zwangsweise den so genannten „Judenstern“ an ihrer Kleidung tragen, um öffentlich als Juden kenntlich zu sein.
Sie wurden so ausgegrenzt, öffentlichen Misshandlungen ausgesetzt und konnten jederzeit verhaftet und in Lager verfrachtet werden.
Im Jahr 2021 nähen ihn Menschen freiwillig auf ihre Kleidung, ergänzt um die Aufschrift „ungeimpft“.
Das kann man als geschmacklos bezeichnen, es unhistorisch nennen oder gar anmerken, damit würde die Schreckensherrschaft der Nazis verharmlost. Man kann und darf darüber empört sein.
Doch ist man genau in die Falle gelaufen, die damit aufgestellt wurde.
Denn das gemeinsame Narrativ von Rechtspopulist*innen, Reichsbürger*innen, Nazis und eben auch vielen Akteuren der so genannten „Querdenker“ ist der Opferkult um die eigene Person.
Sascha Lobo hat dies kürzlich im SPIEGEL ganz wunderbar herausgearbeitet. In seiner lesenswerten Kolumne geht er der Frage auf den Grund, was Rechtsradikale und deren unkritisches Umfeld dazu treibt, diesen Opferkult strategisch zu zelebrieren.
Offensichtlich steckt dahinter die Hoffnung, die eigene politische Täterhistorie im Nachhinein umzuinterpretieren. Das ist nachvollziehbar und auch zumindest in Teilen der Öffentlichkeit erfolgreich.
Genau das ist die Herausforderung für unsere Demokratie. Es sind nicht ihre Feinde am rechten Rand. Die wird es immer geben. Es sind deren Narrative, die aktuell so große Teile der Bevölkerung erreichen, wie selten zuvor.
Wir alle sind Opfer der Pandemie. Doch viele sehen sich auch als Opfer der Demokratie. Sie klagen darüber, dass ihnen ausgerechnet ein Recht verwehrt würde, das wie kaum ein anderes für die Demokratie steht:
das Recht der freien Rede.
Der Eindruck, „man dürfe Vieles nicht mehr sagen“, ist beileibe kein Randphänomen. Immer mehr Menschen haben dieses Gefühl. Befeuert wird es sicher durch die skizzierten Strategien. Aber das alleine würde keine Wirkung erzeugen, wenn es nicht an die Erfahrungen der betreffenden Personen andocken könnte.
Diese Erfahrungen sind objektiv natürlich weder mit der Judenverfolgung, der Widerstandsbewegung gegen den Nationalsozialismus, dem Alltag der Menschen, die in einer der vielen Diktaturen dieser Welt leben, vergleichbar.
Aber sie sind subjektiv vorhanden.
Um sie zu verstehen, müssen wir genauer hinhören. In der aktuellen Shell-Jugendstudie stimmen zum Beispiel 68 Prozent der Jugendlichen folgender Aussage zu:
„In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen…“
Wer das glaubt, sieht seine Grundrechte eingeschränkt, glaubt nicht mehr an das große demokratische Versprechen des freien Wortes, ist irgendwann auch für bewusst kreierte Begriffe wie „Merkeldiktatur“ offen.
Die gedankliche Kette ist also erstaunlich kurz. Das kann sie nur sein, weil sie eine Abkürzung nimmt, weil sie ein Missverständnis ausnutzt, das erst mit den Sozialen Blasen des Internetzeitalters möglich geworden ist.
Welches Missverständnis?
Wir kommen ihm auf die Spur, wenn wir uns den Satz aus der Shell-Studie in Gänze ansehen. Er lautet nämlich:
„In Deutschland darf man nichts Schlechtes über Ausländer sagen, ohne gleich als Rassist beschimpft zu werden.“
Genau darum geht es: Natürlich haben wir Meinungsfreiheit in einem Umfang, der aktuell weltweit und historisch ganz außergewöhnlich ist.
Aber: Wer seine Meinung äußert, muss in einer demokratischen Gesellschaft damit leben, das ihm widersprochen wird.
Und längst nicht alles, was da geäußert wird, ist nur „Meinung“. Manches ist Vorurteil, Beschimpfung, Verdrehung von Tatsachen oder schlicht Lüge. Und auch umgekehrt gilt: Selbst eine schlichte Meinung kann mit Widerspruch in Form von Beschimpfungen, Bedrohungen, Lügen oder echten Shitstorms gekontert werden.
Wir haben in unserer Demokratie aktuell kein Problem mit der Meinungsfreiheit, wir haben ein Problem mit dem Diskurs.
Wir können ihn nicht. Wir haben ihn verlernt. Weil wir ihn zu wenig führen.
Wir kreisen in unseren Selbstbestätigungsblasen, in denen wir jede Meinung, und sei sie auch noch so absurd und exotisch, nicht nur äußern dürfen, sondern mehr Applaus bekommen, je demagogischer wir sie formulieren.
Prallen wir dann live oder digital mit einer anderen Blase zusammen, geht die Post ab. Am Ende halten die einen die anderen für bekloppt, und die vermeintlich Bekloppten fühlen sich als Opfer einer Meinungsdiktatur.
Mit jedem Zusammenprall werden die Gräben tiefer, die Wunden blutiger und die gegenseitige Verachtung weiter bestärkt.
Da hilft es dann oft nicht mehr, neue Diskursformate zu erdenken oder mehr Beteiligung anzubieten. Was als Feuerlöscher gedacht ist, wird bei so verhärteten Fronten schnell zum Brandbeschleuniger.
Was uns in Deutschland abhanden gekommen ist, ist Diskurskompetenz. Das ist eine Frage des Könnens, des Wollens und der Einstellung. Einfach nur mehr Möglichkeiten anzubieten, genügt nicht mehr.
Es geht um nichts weniger als einen Kulturwandel. Der ist, das zeigt die Geschichte, stets mühsam, immer schmerzlich, oft zäh – aber möglich.
Dazu müssen wir jedoch zunächst die Mechanismen entlarven, die uns in die aktuelle Situation manövriert haben und sie immer weiter anheizen. Erst dann haben wir eine Chance, nicht nur irgendwelche Diskurse anzuzetteln, sondern Prozesse in Gang zu setzen, die unsere Demokratie wieder stärken, weil sie Streit wieder zu dem machen, was er für eine Demokratie sein sollte: Treibstoff.
Einen wichtigen Faktor, seine Wirkung und wie wir ihm entgegensteuern können, wollen wir uns in der kommenden Woche genauer anschauen:
Den individuellen und kollektiven Narzissmus.
Lieber Herr Sommer,
seit ich Sie vor einiger Zeit in einer TV-Reportage entdeckt habe, lese ich Ihren Newsletter und ertappe mich einmal mehr dabei, wie ich beim Lesen innerlich „Ja, ja, JA!“ rufe.
Diskurskompetenz.
Das sollte eigentlich als Pflichtschulfach angeboten werden. Denn wie Sie schon schreiben, haben wir in Zeiten, wo uns die Technologie immer weiter in unsere Blase versenkt, verlernt, uneinig zu sein und kultiviert zu streiten.
Ich bin gespannt auf Ihren Beitrag zum Thema Narzißmus. Ein weiteres Problem, das durch Social Media und ihre Algorithmen befeuert wird…
Danke für Ihre wertvollen Beiträge und für alles, was Sie tun.
Tatsächlich ist Diskurskompetenz etwas, was man zum Beispiel in der Schule lernen kann – dann aber nicht als inhaltsleeres Rhetorik-Training (so wie zum Beispiel in den US-Highschools), sondern im Rahmen einer praktischen Mitwirkungsagenda. Nicht spricht dagegen, Schüler*innen an ganz vielen Dingen des Schulalltags entscheidend mit zu beteiligen. So erfahren sie Selbstwirksamkeit und erleben Demokratie unmittelbar. Nur so geht es. „Unterrichten“ kann man sie nicht wirklich.