Ausgabe #94 | 21. Oktober 2021
Das Ministerium für Glück
Ja, das gibt es. Deutschland hat ein Ministerium für Glück. Die vollständige Bezeichnung lautet „Ministerium für Glück und Wohlbefinden (MfG)“. Und nein, ich habe das nicht erfunden.
Natürlich ist es kein „echtes“ Ministerium, sondern eine ursprünglich pfiffige spontane Kampagne, die sich aber rasch verselbständigt hat.
In den Jahren 2011 bis 2013 arbeitete die Enquete-Kommission „Wohlstand, Wachstum und Lebensqualität“ des Deutschen Bundestages. Diese Kommission beschäftigte sich mit Alternativen zum Bruttoinlandsprodukt. Der UN-Generalsekretär Ban Ki-moon forderte ein neues ökonomisches Paradigma, das neben wirtschaftlichen Zielgrößen gleichgewichtig auch die Bereiche Soziales und Umwelt umfassen sollte.
Doch trotz der außerordentlich interessanten Ergebnisse dieser Kommission galt und gilt bei uns nach wie vor das „Wachstumsparadigma“. Diese Überhöhung des Wirtschaftswachstums war ein Anstoß für Axel Kolaschnik, Professor an der Mannheimer Fakultät für Gestaltung, seinen Student*innen die Aufgabe zu stellen, eine Kampagne zu entwickeln, „die einen Wertewandel in der Gesellschaft anstoßen sollte.“
Gina Schöler und Daniel Clarens, erdachten daraufhin im Rahmen dieser Kampagne das Projekt „Ministerium für Glück und Wohlbefinden“. Daraus entstand eine Internetseite und eine Kampagne, die bis heute aktiv ist. Ein offizielles Ministerium wurde daraus nicht, immer noch ist das Bundesministerium für Wirtschaft für unsere staatliche Wohlstandsmessung verantwortlich. Und es misst immer noch ausschließlich das Bruttoinlandsprodukt.
Mit der Wirtschaft ist es wie mit der Demokratie: Sie braucht verlässliche Strukturen und klare Zuständigkeiten, um sich gut und dauerhaft entwickeln zu können. Und Wirtschaft ist natürlich nicht wichtiger als Demokratie. Deshalb haben wir für die zentrale Funktion der Demokratie, die politische Teilhabe, auch ein eigenes Ministerium.
Hoppla.
Haben wir nicht? Aber doch immerhin klare Zuständigkeiten? Im Innenministerium. Das für die Stabilität unserer Gesellschaft zuständig ist. Und in dem es mehr Staatssekretäre (tatsächlich bis auf eine Ausnahme Männer) gibt, als in jedem anderen Ministerium.
Da gibt es auf Leitungsebene Zuständige für Öffentliche Sicherheit, für die Bundespolizei, für Flüchtlingspolitik, für Krisenmanagement, für Verwaltungsrecht, für den Öffentlichen Dienst, für Europapolitik, für Digitalisierung, für Cybersicherheit, für Heimat, für Sport, für Stadtentwicklung und Bauwirtschaft. Für Demokratie? Beteiligung? Politische Teilhabe? Fehlanzeige.
Dann vielleicht im Kanzleramt? Immerhin vier Staatsminister*innen für besonders wichtige Themen sind dort zurzeit benannt: erneut für Digitalisierung, für Migration, dazu noch für Kultur und Bund-Länder-Beziehungen. Demokratie? Nicht so wichtig.
Einen Trumpf haben wir noch: 38 Bundesbeauftragte und „Koordinatoren“ leistet sich unsere Republik. Darunter für so wichtige Themen wie (erneut) Digitalisierung und Migration, aber auch für Tier- und Datenschutz sowie für Tourismus. Ja, sogar für die „Behandlung von Zahlungen an die Konversionskasse“. Demokratie findet sich auch hier nicht in der Liste.
Offensichtlich haben wir in der Bundespolitik ein Wahrnehmungsproblem. Ausgerechnet die essentielle Basis unseres Zusammenlebens, die breite politische Teilhabe, scheint für so selbstverständlich gehalten zu werden, dass sie weder einer Zuständigkeit auf Regierungs- oder Ministeriumsebene noch im Parlament bedarf.
Es gibt auch kein Bundesamt oder irgendeine andere Einrichtung, die damit beauftragt ist. Was man im Rahmen von Regierungshandeln zur Demokratieförderung findet, sind Maßnahmen zur „Extremismusbekämpfung“.
Doch was ist das für ein Gesellschaftsbild, das Demokratie als Abwesenheit von Extremismus definiert? Wagen wir einmal eine mutige These: Möglicherweise hat der aktuelle Zustand unserer Demokratie, die Erosion der Akzeptanz unserer politischen Strukturen, Institutionen und Akteure etwas damit zu tun?
Einige Bundesländer haben Beteiligungsbeauftragte, in Baden-Württemberg sogar im Rang einer Staatsministerin. Auch in der Suche nach einem Endlager für die Hinterlassenschaft unserer Atomindustrie leisten wir uns einen „Partizipationsbeauftragten“. Wir erkennen also, dass solche Institutionen hilfreich sein können. In der Bundespolitik tun wir bislang so, als sei die Demokratie „eh da“. Möglicherweise wird es Zeit, daran etwas zu ändern.
Doch es gibt Grund für Optimismus: Bei den aktuellen Koalitionsverhandlungen soll in nicht weniger als 22 Arbeitsgruppen diskutiert werden.
Der Titel der Arbeitsgruppe Nummer 1 lautet: „Staat und Demokratie“. Sie soll sich unter anderem mit den Themen Planungsbeschleunigung, Wahlrecht und Partizipation befassen. Das ist eine Ansage. Warten wir auf die Ergebnisse. Es muss ja nicht gleich ein „Ministerium für Glück“ sein.
Doch dass die neue Bundesregierung Demokratie erneut als Nebensache abhandelt, das erscheint aktuell nicht mehr ganz so wahrscheinlich.
Bleiben wir also aufmerksam.