Ausgabe #95 | 28. Oktober 2021
Das Wohl der Anderen
Seit knapp zwei Jahren hält die Covid-19-Pandemie unsere Welt in Atem. Sie hat bis jetzt rund fünf Millionen Todesopfer gefordert, viel Leid über die Menschen gebracht, viele Absurditäten und Verwerfungen produziert.
Der Streit über Sinn und Angemessenheit von Maßnahmen spaltet Freundeskreise und Familien. Er produziert eine täglich wachsende Zahl von Falschinformationen und Verschwörungserzählungen, hat zur Gründung neuer Parteien und manch einer Hasskampagne in den (zumeist eher weniger) sozialen Medien geführt.
Als dann endlich erste Impfstoffe zur Verfügung standen, verschärfte sich der Umgangston noch einmal. Bis heute haben wir trotz eines Verzichts auf einen Impfzwang den allergrößten Teil der in Frage kommenden Bevölkerung geimpft. Der Streit jedoch ist noch lange nicht beigelegt.
Ob Impfung, Maskenpflicht oder Zugangskontrolle: Immer wieder gibt es wüste Konflikte und wilde Eskalationen.
Es ist zu früh, um eine seriöse Bilanz der gesellschaftlichen Verwerfungen zu ziehen, die uns die Pandemie beschert hat. Klar ist jedoch: Unsere Demokratie, ohnehin schon unter Druck, hat weiteren Schaden erlitten. Die Höhe wird noch zu ermitteln sein.
Ein spannendes Phänomen aber können wir schon jetzt beobachten. Und darüber wollen wir heute sprechen: Es geht um das Wohl der Anderen.
Jenes Wohl, das in der öffentlichen Debatte über das Impfen eine so erstaunlich geringe Rolle spielte.
Wir erleben es gerade wieder in der Diskussion über Joshua Kimmich, unseren Fußballnationalspieler, der gerne und regelmäßig eine Art Vorbildrolle ausfüllt – sich aber bis heute nicht zu einer Impfung durchringen konnte. Das führt zu Hass und Häme bei Kritiker*innen. Seine Verteidiger*innen argumentieren damit, dass es seine Privatsache sei und niemand etwas anginge.
Und eben das ist falsch.
Damit sind wir da, wo es weh tut. Und wo es falsch läuft: Wenn wir uns impfen lassen, insbesondere dann, wenn wir jung, gesund und ohne Vorerkrankungen sind, schützen wir uns selbst. Vor allem aber schützen wir andere. Menschen, denen wir nie begegnet sind und nie begegnen werden.
Weil wir in einer Gesellschaft Verantwortung für andere übernehmen, darum verzichten wir, darum übernehmen wir Pflichten, darum gehen wir in Lockdowns, tragen Masken, nehmen weitere Belastungen in Kauf.
Viele tun das bereitwillig, manche murrend, einige verweigern sich. Das ist nicht ungewöhnlich. Wirklich problematisch ist, welch eine geringe Rolle dies in den öffentlichen Debatten gespielt hat und auch aktuell noch spielt. Gerade so, als sei Gemeinwohl ein mögliches Motiv, aber ein eher sekundäres, optionales, weniger zwingendes.
Die Pandemie hat den Fokus auf eine Entwicklung gelenkt, die wir bislang wenig beachtet haben, die aber einen ungeheuren Sprengstoff für unsere Demokratie darstellen könnte.
Denn wir beobachten dieselben Anzeichen auch in diversen Beteiligungsprozessen: Ob es um den Bau von Windrädern, Stromleitungen oder Straßen geht: Immer öfter argumentieren Gegner*innen nicht einmal ansatzweise mit echtem oder vermeintlichem Gemeinwohl. Es reicht völlig zu sagen „Will ich nicht vor meiner Haustür“ – um in einem Beteiligungsprozess eine aktive Mitwirkung einfordern zu können.
Tatsächlich werden solche Motive oft genug völlig gleichberechtigt mit gemeinwohlbezogenen Argumenten verhandelt. So, als müsse die aus Klimaschutzgründen dringend benötigte Energiewende sich irgendwie mit den gleichwertigen Interessen der „Ich-will-aber-nicht“-Fraktion arrangieren.
Das ist eine Schieflage, in die wir in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend hineingeschlittert sind und die schleichend unsere Demokratie unterminiert.
Denn sie delegitimiert deren Grundlage.
In einer Demokratie geht es immer auch um das Wohl der Anderen, genau dafür ist sie konstruiert. Genau dafür gibt es Wahlen und Abwahlen, Gesetze und Gerichte, politische Debatten und Demonstrationen.
Demokratie generiert Entscheidungen durch Mehrheiten. Entscheidungen, die auch die Interessen der Minderheit berücksichtigen. Denn in jeder Demokratie kann die Minderheit schon morgen die Mehrheit sein.
Genau darum geht es auch in Beteiligungsprozessen, ja sogar noch mehr: Sie sollen jenseits von Wahlen die Generierung von Gemeinwohl im Diskurs fördern. Dazu beteiligen sie viele, auch jene, die nur ihr eigenes Wohl im Fokus haben.
Doch der Anspruch bleibt, mit allen Beteiligten gemeinsam über gemeinwohlorientierte Lösungen zu verhandeln. Wie dies in jedem konkreten Fall aussieht, wie die Partikular- und die Gesamtinteressen aussehen und sich miteinander arrangieren können, darum geht es in den Prozessen. Das macht sie anspruchsvoll.
Genau deshalb ist es eben so wichtig, den Fokus auf den Gemeinwohlanspruch zu lenken. Das wagen wir manchmal zu selten, zu zaghaft, zu leise. So wie wir es in der Impfdebatte gerade erleben.
Für beides – die große Covid-19-Diskussion und jedes, auch noch so kleine Beteiligungsvorhaben gilt: Bleiben wir entspannt, aber stur.
Jedes Interesse, jede Sichtweise ist willkommen. Kein Argument ist verwerflich, kein Egoismus ein Grund für Ausgrenzung oder Empörung.
Wir bleiben entspannt.
Am Ende aber muss die Lösung den Anspruch haben, gemeinwohlorientiert zu sein.
Hier bleiben wir stur.
Ich finde, dass fast immer Teilnehmende, die nur ihre eigenen Interessen durchsetzen wollen, den Beteiligungsprozess dominieren. Die Gemeinwohlorientierten sind in der Minderheit. Das ist für mich als Moderatorin sehr herausfordernd. Tatsächlich geht es dann meistens wirklich „nur“ noch um einen Kompromiss …
Ihre Beobachtung ist nicht untypisch. Partikularinteressen sind ein regelmäßiges Motiv für Beteiligung. Daraus dann gemeinsam Gemeinwohl zu generieren ist DIE große Herausforderung für jeden Beteiligungsprozess.
Es geht leichter, wenn dieser Anspruch auch von Anfang an immer wieder klar kommuniziert wird (Tatsächlich wird das überraschen häufig lange unterlassen). Aber es funktioniert nicht immer. Das ist auch in Ordnung. Nicht jeder Beteiligungsprozess kann und muss erfolgreich sein. Dazu ist er für zu viele Beteiligte zu neu und ungewohnt.
Dennoch können wir uns um diesen, oft schmerzhaften und frustrierenden Teil der Beteiligung nicht herumdrücken, denn er ist der Grund, warum wir beteiligen.
Manche erliegen der Versuchung, Partikularinteressen und Konflikte aus dem Prozess auszublenden bzw. zu entschärfen, indem sie bewusst nicht Betroffene beteiligen, sondern zum Beispiel mit (mehr oder weniger) Zufallsauswahlen arbeiten. Das macht es angenehmer, oft die Ergebnisse tatsächlich „besser“. Aber es nimmt die Chance, gemeinsam zu lernen, aus konflikttreibenden Partikularinteressen gemeinsam Gemeinwohl zu generieren. Doch genau diese Erfahrungen sind es, die wir zur Stärkung unserer Demokratie brauchen. Und zwar massenhaft brauchen.