#96 | Keine Frage der Kompetenz

Kompetenz spielt bei der Vergabe von Regierungsposten eine untergeordnete Rolle. In Beteiligungsprozessen dagegen schon. Und das ist ein Risiko.

Ausgabe #96 | 4. November 2021

Keine Frage der Kompetenz

Die Koalitionsverhandlungen in Berlin schreiten voran. Über 20 Arbeitsgruppen mit über 300 Beteiligten aus drei Parteien arbeiten alle relevanten Themen ab – in Rekordgeschwindigkeit und mit beinharter Disziplin.

Nur selten blitzen mögliche Konfliktfelder in den Medien auf. Insgesamt vermitteln die zukünftig Regierenden ein Bild großer Professionalität und beispielloser Harmonie.

Tatsächlich finden die größten Konflikte gerade innerhalb der beteiligten Parteien statt. Und sie werden die kommenden Wochen prägen: Wie immer in solchen Prozessen geht es am Ende ums Personal.

Wer wird Ministerin. Wer Staatssekretär. Wer wird mit einem anderen lukrativen Posten belohnt, wer geht völlig leer aus?

Die Medien spekulieren, die Kandidat*innen bringen sich in Stellung, suchen Fürsprecher*innen, betonen ihre Ansprüche. Am Ende wird es etliche erwartbare Personalien geben – und sicher auch wieder einige Namen, die in der Öffentlichkeit Kopfschütteln verursachen.

Denn es gibt viele Faktoren, die berücksichtigt werden müssen: Da ist einmal der Proporz zwischen den Parteien, vor allem aber müssen parteiintern viele Gruppen bedient und vertreten werden: Politische Strömungen, regionale Strukturen, Geschlecht und Herkunft spielen eine Rolle. Und häufig ist ein Name nur deshalb nicht ministrabel, weil ein anderes Parteimitglied aus demselben Landesverband und/oder derselben Strömung bereits für einen anderen Posten gesetzt ist.

Bleiben bei diesem politischen Casting am Ende dann doch einmal mehrere Namen auf der Liste, zählen Verdienste um den Wahlsieg, mediale Präsenz oder die Entbehrlichkeit auf der jetzigen Position.

Kurz und gut: Die Liste der Faktoren ist lang, der Prozess kompliziert. Am Ende steht immer ein Ergebnis.

Einen Faktor haben wir bislang nicht erwähnt. Weil er tatsächlich eine völlig untergeordnete Rolle spielt: die Kompetenz.

Und genau das verwirrt die Menschen. Wirkt es nicht mehr als witzig, wenn eine Bewährung als Familienministerin dieselbe Person für das Verteidigungsministerium „qualifiziert“ hat?
Ist es nicht grotesk, wenn jemand dieses Ministerium leitet, der in der Bundeswehr nie gedient hat? Müsste ein*e Wirtschaftsminister*in nicht wenigstens über eine solide wirtschaftswissenschaftliche Qualifikation verfügen? Ein Außenminister nicht zumindest verhandlungssicher englisch sprechen? All diese Beispiele gehören ganz konkret zur Besetzungsgeschichte deutscher Ministerien.

Und so werden wir auch in diesem Herbst wieder Namen an der Spitze von Ministerien lesen, zu denen uns spontan eine große Zahl besser geeigneter Politiker*innen einfällt. Aber: Das macht nichts.

Denn demokratische Prozesse sind ausdrücklich nicht dazu da, den oder die Kompetenteste*n mit den meisten Machtbefugnissen auszustatten. Kompetenz ist in einer Demokratie kein Kriterium für Macht.

Das klingt brutal. Ist es auch. Aber es ist gut so. Denn Demokratie ist nicht Expertokratie. Es geht nicht darum, immer die beste, klügste, wissenschaftlichste Lösung zu finden, sondern die gesellschaftlich verträglichste. Das führt zu merkwürdigen Volten zum Beispiel in der Pandemiebekämpfung und zu manchmal geradezu schnarchnasigem Innovationstempo.

Doch anders ist Demokratie nicht zu haben. Das ist der Preis, den wir für Gerechtigkeit und politische Teilhabe zahlen. Wir wünschen uns alle einen effizienten Staat – aber wir wollen keine effiziente Diktatur. Und deshalb müssen wir akzeptieren, dass nicht alles perfekt läuft, dass nicht alle Lösungen optimal sind, und dass nicht alle Spitzenpolitiker*innen mit Fachkompetenz brillieren.

Im Übrigen sind deutsche Ministerien weltweit für die Kompetenz ihrer verantwortlichen Beamt*innen bekannt. Im Grunde sind die meisten von ihnen so gut organisiert, dass selbst ausgesprochene personelle Fehlgriffe an der Hausspitze nicht so viel Schaden anrichten wie befürchtet. Es gibt und gab auch in der vergangenen Legislaturperiode Ausnahmen. Aber nichts ist perfekt. Und Demokratie schon gar nicht.

Was aber selbst für die Spitzen unserer Bundespolitik gilt, das dürfen natürlich auch alle Bürger*innen für sich in Anspruch nehmen.

Es stimmt: Manch einer hat ganz schön viel Meinung für ganz schön wenig Wissen. Aber auch für die politische Teilhabe gilt: Kompetenz ist kein Kriterium.

Deshalb beteiligen wir vor Ort zu strittigen Themen ja nicht nur Ärzte, Juristinnen und pensionierte Studienräte, sondern versuchen gerade jene Gruppen anzusprechen, die per se weniger politische Wirksamkeit kennen. Wir streben so genannte „breite“ Beteiligung an und gehen gezielt auf „beteiligungsferne“ Gruppen zu. Dieses Prinzip hat sich in der Fläche weitgehend durchgesetzt. Je erfolgreicher es ist, desto anspruchsvoller wird jedoch der eigentliche Beteiligungsprozess.

Hier soll nicht der oder die Lauteste dominieren, sondern allein das bessere Argument zählen. Und plötzlich haben wir wieder die Kompetenz im Spiel. Wer mehr weiß, geschliffener argumentiert, solidere Fakten im Gepäck hat, ist wirksamer.

Und so wird aus der angestrebten „breiten“ Beteiligung ganz schnell – ehe wir uns versehen – das, was wir disparate Beteiligung nennen: Einige wenige, gebildete, politisch erfahrene Akteur*innen dominieren, die anderen schauen zu.

In der Spitzenpolitik ist also, wie wir gesehen haben, Kompetenz kein Kriterium. In der Auswahl von zu Beteiligenden auch nicht. Wenn dem so ist, dann ist Kompetenz in Beteiligungsprozessen selbst allerdings etwas anderes: Ein Risiko.

Wie wir mit diesem Risiko umgehen, ob wir Kompetenz in Beteiligungsprozessen tatsächlich bekämpfen, reduzieren oder marginalisieren müssen und welche Alternativen es gibt – das wollen wir uns in der kommenden Woche anschauen.

Bis dahin: Genießen Sie vor dem Hintergrund unseres heutigen Themas einfach die Namen, die zwischenzeitlich in den Spekulationen über zukünftige Ministerinnen und Minister auftauchen …

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