Ausgabe #98 | 18. November 2021
Wir schaffen das
„Das WIR entscheidet“, „Packen WIR’s an“, „WIR schaffen das“. In den vergangenen Jahren erleben wir eine „Inflation des WIR“ in politischen Slogans. Gleichzeitig drängt sich der Eindruck auf, dass in der realen Gesellschaft das WIR immer mehr vom ICH abgelöst wird.
Sprechen wir heute also über das „WIR“, über Solidarität und Wertewandel und über die Frage, was das für Demokratie und Beteiligung bedeutet.
Unterstützung bekommen wir dabei von einer bemerkenswerten Katze.
Tatsächlich beobachten wir etwa seit den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein Phänomen der Individualisierung.
Die Epoche zuvor war von kollektiven Ideen und der Vorstellung gemeinsamer Identitäten geprägt. Menschen definierten sich in bemerkenswerter Intensität als Teil einer sozialen Gruppe, ob Mitglieder einer Kirche, einer „Volksgemeinschaft“ oder des „internationalen Proletariats“.
Im Vordergrund stand nicht das Individuum, sondern das Kollektiv, gleich welcher politischen Coleur, selbst dann, wenn dieses Kollektiv sich als „arische Rasse“ anderen überlegen fühlte, diese ausgrenzte oder gar vernichten wollte.
Die großen politischen Konflikte bestanden zwischen unterschiedlichen Identitätsgruppen.
Dies änderte sich mit zunehmendem Wohlstand, mit stabilen demokratischen Strukturen, mit immer individuelleren Lebensläufen, mit der Erfindung des modernen, auf Individuen zielenden Marketings.
Aus einer Gesellschaft der Identitäten wurde zunehmend eine Gesellschaft der Individuen. Beschleunigt dann seit der Jahrtausendwende durch die Algorithmen der Sozialen Medien und durch die immer individuellere Medienrezeption.
Und nun kommt unsere Katze ins Spiel. Konkret ein Phänomen das wir „The Eye of Fritz the Cat“ nennen.
Der besagte Kater namens Fritz war in den 60er Jahren Protagonist beliebter Comicstrips in amerikanischen Zeitschriften. Er war fett, faul arbeitsscheu und sexbesessen, wahrhaft asozial, rücksichtslos und er pfiff auf die Gefühle der anderen. Und er hatte viele Fans.
Seine Augen waren groß und glubschig, konnten aber zu schmalen, gefährlichen Schlitzen werden, wenn ihn die Wut oder die Drogensucht packte. Diese Augen sind überraschend deckungsgleich mit einer Grafik, die aus zwei Linien besteht: Die untere Linie zeigt die Individualisierung der Gesellschaft, die obere die Entsolidarisierung.
Beides ist nicht dasselbe. Und tatsächlich gibt es einen Zusammenhang, allerdings einen zeitlich verzögerten. Denn selbst eine rasch zunehmende Individualisierung in einer Gesellschaft hat zunächst noch kaum eine Auswirkung auf deren solidarische Strukturen und Konsense. Doch das hält nicht ewig an. Mit zunehmender Dauer erodieren auch die solidarischen Grundfesten bis sie schließlich in einem sich rasch beschleunigten Prozess geradezu in sich zusammenfallen.
Aus einer Gesellschaft der Individuen wird also letztlich eine Gesellschaft der Egoist*innen.
Die interessante Frage lautet: An welchem Punkt dieser Doppelkurve befinden wir uns aktuell?
Die noch viel spannenderen Fragen lauten: Ist dieser Prozess zu stoppen? Ist er gar umkehrbar? Lassen sich die beiden Kurven entkoppeln?
Es gibt einen Grund für die zunehmenden „WIR“-Apelle. Es ist derselbe Grund für zunehmende Beteiligungsangebote, für den Ruf nach mehr Teilhabe: Wir erkennen tatsächlich eine zunehmende Entsolidarisierung und wir wollen sie bekämpfen.
Das ist gut. Und es ist wichtig.
Genau so wichtig ist aber auch: Entsolidarisierung bekämpft man nicht, indem man die Individualisierung bekämpft. Der oben beschriebene Prozess ist eben nicht so einfach reversibel.
Tatsächlich ist das aktuelle Ringen um eine neue Beteiligungskultur in unserem Land nur dann erfolgreich, wenn es die Solidarität fördert – indem es die Individualität akzeptiert. Das Konzept von Beteiligung ist nicht Kollektivierung, nicht die Umkehr der geschilderten Entwicklungen, sondern deren Entkopplung.
Beteiligung ist dann die richtige Antwort, wenn sie auf die Solidarität der Individuen setzt. Das macht sie kompliziert. Und anspruchsvoll. Und wirksam.
Was das für Beteiligungsvorhaben heißt, warum es da sehr gefährliche Ansätze gibt, warum diese häufig scheitern und warum andere funktionieren, darüber sprechen wir in der kommenden Woche. Wenn wir die ganze Thematik einmal nicht vom WIR aus betrachten, sondern vom ICH.