Ausgabe #99 | 25. November 2021
Das Ich entscheidet
Über die Inflation der „Wir-Appelle“ sprachen wir in der vergangenen Woche. Und darüber, warum sie ungehört verhallen. Wir lernten „The Eye of Fritz the Cat“ kennen – und das Verhältnis von Individualisierung und Entsolidarisierung. Es ist eben kein proportionales, eher ein zeitlich versetztes. Und vor allem: Es ist nicht reversibel.
Schon gar nicht in einer Gesellschaft, in der Parteien versuchen, Wahlen mit dem Slogan „Das WIR entscheidet“ zu gewinnen, während gleichzeitig die ehemals staatliche Postbank mit dem Slogan „Unter dem Strich zähl ICH“ wirbt. Die Werbebranche dokumentiert es Tag für Tag: Wir leben in einer immer diverseren, hoch individualisierten Gesellschaft. Die zentrale Herausforderung für die Zukunft ist nicht, wie wir diese Entwicklung umkehren können. Wir können es nicht.
Und wir müssen es nicht.
Es geht vielmehr darum, die Individualisierung von der Entsolidarisierung zu entkoppeln. Das ist anspruchsvoll. Und weder schmerzfrei noch mit Erfolgsgarantie versehen. Wie herausfordernd dies ist, erleben wir in der aktuellen Corona-Pandemie: Zu viele Menschen verweigern sich einer Impfung, die letztlich neben dem Selbstschutz (abzuwägen gegen echte oder vermeintliche Risiken) vor allem dem Schutz Dritter gilt, also ein Akt der Solidarität ist.
Appelle an diese Solidarität fruchten nicht bei allen. Und reden wir es uns nicht schön: Auch ein großer Teil der bereits Geimpften hat nicht eine Sekunde einen Gedanken daran verschwendet, Dritte zu schützen. So wie es heute Menschen gibt, die einen Impfnachweis fälschen, um sich ohne Impfung durchzuschummeln.
So gab es im vergangenen Frühjahr Tausende von Drängler*innen, die versucht haben, sich eine Impfung zu erschleichen, als der kostbare Stoff noch knapp war. Die Doppelgleichung
ungeimpft=unsolidarisch
geimpft=gemeinwohlorientiert
ist bestechend, aber gilt so nicht pauschal. Offensichtlich tut sich unsere Gesellschaft der Individuen schwer damit, mehr als eine Gesellschaft der Egoist*innen zu sein. Aber genau daran müssen wir arbeiten, wenn wir sie nicht auseinanderfallen lassen wollen.
Ein Teil dieser Arbeit findet in den immer wichtiger werdenden Beteiligungsprozessen statt, die an Umfang und Qualität gerade in den vergangenen Jahren gewonnen haben. Sie sind eine Antwort auf individualisierte Bürger*innen, die sich nicht mehr mit der kollektiven, abstrakten repräsentativen Wahldemokratie begnügen wollen. Sie wollen sich dann einbringen, wenn es sie als Individuen betrifft, anspricht oder schlicht interessiert.
Das ist gut so, denn es ermöglicht engagierte Diskurse. Es funktioniert aber nur, wenn wir uns der beschriebenen Hintergründe bewusst sind: Die Teilnehmer*innen an diesen Diskursen sind divers, individuell und folgen in der Regel einem persönlichen Beteiligungsimpuls – nicht einem abstrakten Gemeinwohlappell.
Das hat Folgen für die Prozesse: Sie sind nie konfliktfrei, oft schmerzhaft, selten kurz und fast immer zäh und frustrierend. Wenn hoch diverse Individuen gemeinsam und ergebnisorientiert an einem Thema arbeiten, ist der Weg zwar nicht das Ziel, aber von großer Bedeutung.
Eben weil ein gemeinsames, konsensuales Ergebnis kaum erwartbar ist, muss der Prozess geduldig und von allgemeiner Wertschätzung geprägt sein. Denn am Ende steht ein unserer individualisierten Gesellschaft angemessenes, oft komplexes und nicht für alle befriedigendes, weitgehend einvernehmliches Ergebnis. Etwas anderes zu erwarten, würde bedeuten, von einer Identitären Gesellschaft zu träumen – die Geschichte ist.
Gute Beteiligung konzentriert sich also auf faire Prozesse und Debatten – nicht auf ein ultimativ akzeptables Ergebnis.
Am Ende entscheidet nicht das „WIR“, sondern der Umgang mit den vielen „ICHs“. Auch mit einem Ergebnis, das die Brit*innen so wunderbar subtil „we agree to differ“ nennen, ist der Prozess nicht gescheitert, sondern er hat uns auf dem Weg zu einer Solidargemeinschaft der Individuen weitergebracht. Vielleicht nicht weit, aber weiter.
Er hat vielleicht die Beteiligenden nicht glücklich gemacht. Aber das ist auch nicht die Aufgabe von Beteiligung. Wenn wir aus der eingangs erwähnten Impfdebatte eines schon heute lernen können, dann dies: Wir haben viel zu wenig miteinander gesprochen. Und „beteiligt“ haben wir dazu so gut wie gar nicht.
Das können wir besser.