#103 | Wir schenken uns ein Parlament

Die Europäische Kommission präsentiert uns eine ausgefallene Geschenkidee: Ein eigenes Parlament bei uns zu Hause. Was steckt hinter dem Konzept?

Ausgabe #103 | 23. Dezember 2021

Wir schenken uns ein Parlament

Als wäre Weihnachten nicht schon kompliziert genug.

Jahr für Jahr sucht es uns immer wieder überraschend früh und unvermittelt heim. Oft fehlen uns Geschenkideen und/oder die Zeit, um sie zu besorgen. In den letzten Jahren wird zudem die Konsumscham immer größer.

Angesichts von Klimawandel, Umweltkatastrophen und dem reichlich desolaten Gesamtzustand der Welt: Wer mag da noch Dinge kaufen, die die Beschenkten gar nicht brauchen und oft nicht einmal wollen?

Kein Wunder, dass immer mehr Gutscheine auf dem Gabentisch landen. Die Quote steigt.

Die besonders Pfiffigen verschicken keinen Parfümerie-Scheck sondern zum Beispiel „Ein Jahr Weltretten“ (Nennt sich echt so, ist eine gute Sache, kommt besonders gut bei Kindern an).

Doch damit ist das Weihnachtsproblem noch nicht erledigt. Denn dazu kommt der Erwartungsdruck in Richtung Familienharmonie und Besinnlichkeit. Das Fest der Liebe geht deshalb in vielen Häusern gründlich schief. Türen knallen, Teenager ticken aus, Beziehungen platzen, Polizeieinsätze wegen häuslicher Gewalt steigen, und nie werden so viel Menschen enterbt, wie kurz nach den Feiertagen. Schade eigentlich.

Denn während der Feiertage verbringen wir viel mehr Zeit miteinander als sonst. Es gibt keine Möglichkeit, durch Schule oder Arbeit den familiendynamischen Prozessen zu entkommen. Das kann belastend sein. Aber auch eine Chance. Vielleicht in diesem Jahr für eine ganz neue Aktivität?

Da hat nämlich ausgerechnet die EU etwas Feines für uns vorbereitet. Also schreiben wir flugs einen Gutschein (ist ja angesagt, wie wir gesehen haben). Und schenken uns ein Parlament.

Also ein kleines. Ein kurzes. Aber ein echtes. Also fast echt. Immerhin aber mit Wirkungsanspruch. Denn die Europäische Kommission lädt alle Bürgerinnen und Bürger Europas zu einem ungewöhnlichen Beteiligungsformat ein. Und das hat Potential, nicht nur als Weihnachtsbeschäftigung für die Familie.

Denn dieses Format ist innovativ. Es adressiert zukunftsrelevante Themen (Klimaschutz). Es setzt auf Selbstorganisation. Es stellt sicher, dass es nicht nur Ergebnisse gibt, sondern dass diese auch bei der Kommission ankommen. Anlass genug, es einmal selbst auszuprobieren.

Alles, was wir dazu brauchen, finden wir hier.

Jede und jeder kann so ein Peer Parliament organisieren. Drei Themen sind im Angebot: nachhaltige Mobilität, nachhaltige Energie und nachhaltiger Konsum (Perfekt für Weihnachten).

Kompakte Leitfäden zur Vorbereitung und zur Moderation stehen in allen Sprachen der EU zur Verfügung, ebenso wie Einstiegsinformationen für die Teilnehmer*innen. Die Peer Parliaments laufen mindestens bis Ende Januar, alle dürfen mitmachen. Theoretisch muss man nicht mal 18 Jahre alt sein.

Warum also nicht mal das gute alte Monopoly am zweiten Weihnachtsfeiertag im Schrank lassen und ein Parlament veranstalten? Es könnte sich lohnen.

Natürlich bleibt abzuwarten, wie sehr die Ergebnisse am Ende tatsächlich die europäische Politik beeinflussen. Wer einmal mit der Brüsseler Bürokratie zu tun hatte, erwartet da nicht zu viel. Zudem ist der aktuelle Zeitpunkt gerade zu Beginn der fünften Corona-Welle etwas unglücklich gewählt. Dennoch: Die Initiative ist wunderbar.

Das Format ist anregend, damit zu experimentieren für alle Gruppen lohnenswert. Ob in Familie, Freundeskreis, Schule oder unter Kolleg*innen: Die Peer Parliaments sind Demokartieerlebnisse pur. Und ein Anfang. Ein erster Schritt in ein partizipatives Europa. Den sollten wir mitgehen. In jedem Fall.

Und für alle Beteiligungsprofis unter uns: Ja, das Format kann und darf kopiert werden.

Es funktioniert so auch wunderbar als eigenständige Kampagne zu denselben oder ganz anderen Themen in Organisationen, in Kommunen und anderen Kontexten. Bis Ende Januar läuft das EU-Projekt. Niemand hindert uns daran, ihm lokal weitere folgen zu lassen.

In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein besinnliches, vielleicht in diesem Jahr auch ein debattenreiches Weihnachtsfest. Bleiben Sie streitbar, vor allem aber:

Bleiben Sie gesund!

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2 Kommentare
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Dieter Egner
23. Dezember 2021 15:59

Gute Idee! Auch für die Jugend(bildungs)arbeit geeignet.

Heidrun Hampel
26. Dezember 2021 16:51

Guten Tag, Herr Sommer,
gute Idee. Ich denke allerdings, dass der Begriff „Nachhaltigkeit“ erklärungsbedürftig ist. Ich gebrauche ihn nur noch zusammen mit „enkelgerecht“.
Denn heute behauptet ja bald jede Firma, dass ihre Produkte nachhaltig seien.
Aber, was das genau ist, wird nicht erklärt….
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen ein gutes neues Jahr mit möglichst vielen enkelgerechten Anregungen.

Ihre Heidrun Hampel

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