#110 | Demokratie ist kein Zufall

Aleatorik nennt man die Idee, Parlamente und Regierungen auszulosen. Sie gewinnt aktuell an Anhängern. Das ist nachvollziehbar.

Ausgabe #110 | 10. Februar 2022

Demokratie ist kein Zufall

Politische Entscheidungen sollen auf Fakten beruhen und Ergebnis eines politischen Diskurses sein. Zumindest in der Theorie.

Die Praxis sieht anders aus. Zumindest von außen, also für die meisten Bürger*innen. Für viele sind politische Entscheidungen Ergebnis einer merkwürdigen Melange aus programmatischer Parteiräson, undurchsichtigen Hinterzimmerdeals, nebulösem Lobbyistenwirken und persönlichen Interessen der Beteiligten. Das stimmt so zwar nur manchmal, aber das Image der politischen Akteur*innen war schon einmal besser.

Befeuert sicher auch durch Rechtspopulist*innen, die systematisch und penetrant an der Spaltung von „politischen Eliten“ und „Volk“ arbeiten. Ihr Credo: Der einfache Deutsche auf der Straße würde besser regieren als die „Politikerkaste“.

Kein Wunder, dass sich diese Gruppe aktuell sehr für zwei politische Ideen begeistert: Mehr „direkte Demokratie nach Schweizer Vorbild“ (so steht es im AfD-Parteiprogramm) und die Idee der Aleatorik – also dem Auslosen politischer Mandatsträger*innen bzw. dem Schaffen sogenannter „Zufallsgremien“. Dahinter steckt der Versuch, unsere gewählten Mandatsträger*innen zu delegitimieren.

Denn wenn zufällig ausgeloste Gremien bessere Ergebnisse produzieren, erfolgreicher Gemeinwohl generieren, akzeptiertere Entscheidungen treffen können – dann ist das aus Sicht dieser Akteur*innen der endgültige Beweis dafür, dass die politischen Eliten gegen die Interessen des Volkes handeln.

So kursieren also seit kurzem auf diversen „Corona-Spaziergängen“ Flyer, in denen das antike griechische System als wunderbares Beispiel präsentiert wird. Dort wurden Richter und Regierende ausgelost – und deshalb war alles wunderbar.

War es natürlich nicht. Zumindest nicht für Frauen, Fremde und Sklaven, also der übergroßen Mehrheit der Bevölkerung. Aber wer die Positionen der AfD zu Frauen und Fremden kennt, der ahnt, dass dieses Argument dort wenig Beachtung erfährt.

Und so richtig gut funktioniert hat das im alten Griechenland auch nur im Stadtstaat Athen (anderswo in Griechenland herrschten ganz andere Systeme bis hin zu reinen Diktaturen). Und selbst in Athen war die Blütezeit der Aleatorik zeitlich begrenzt. Auch Wahlen gab es dort nach wie vor. Wer also so offensiv den Zufall über die Wahl stellt, hat dafür Gründe – die Stärkung der Demokratie ist in der Regel keiner davon.

Demokratie ist kein Zufall.

Das Recht zu wählen – und gewählt zu werden, ist Ergebnis langer generationsübergreifender Auseinandersetzungen. Auf den Zufall zu vertrauen heißt, den Glauben an die Demokratie aufzugeben. Und wer den Glauben an die Demokratie erschüttern will, für den ist der Ruf nach dem Zufall ein wirksames Mittel. Sind Losverfahren zur Besetzung von Gremien also blanker Unsinn?

Sind sie nicht. Es kommt nur darauf an, worum es geht. Die gerade massiv an Zuspruch gewinnenden Bürgerräte werden zum Beispiel über Losverfahren besetzt. Aus zwei ganz pragmatischen Gründen:

Erstens kann man aus 80 Millionen Bundesbürger*innen letztlich nur so die 120 Menschen auswählen, die einen bundesweiten Bürgerrat bilden sollen.

Zweitens ist der Zufall eine hervorragende Möglichkeit, um auszuschließen, dass ein solches Gremium doch wieder überwiegend von professionellen Stakeholdern und hauptberuflichen Lobbyist*innen dominiert wird.

Dass auch die AfD solche bundesweiten Bürgerräte für eine ausgezeichnete Idee hält, deutet lediglich darauf hin, dass sie das Konzept nicht ganz verstanden hat. Denn Bürgerräte sind kein Instrument, das Politikerbashing organisieren soll. Sie sind kein alternatives Parlament, sie sind nicht einmal breite Bürgerbeteiligung (bei der Quote von 120 zu 80 Millionen ist die Chance gering, jemals in einem Bürgerrat zu landen).

Sie sind vor allem eines: ein Modell partizipativer Politikberatung. Sie helfen den gewählten (!) Entscheider*innen dabei, vielfältige Sichtweisen und Betroffenheiten zu erkennen, ihre Debatten und Entscheidungen zu erden.

Deshalb ist es auch gar nicht nötig, ja nicht einmal erstrebenswert, am Ende eines Bürgerrates ein Konsensdokument zu haben. Es ist die Vielfalt der Argumente – und Gegenargumente, die Qualität der Debatte, die Gewichtung von Fakten und die ethische Reflexion, um die es geht.

Ergebnisse wie „88,3 % der Beteiligten sehen die Sache soundso“ stehen deshalb nicht im Fokus. Sie könnten auch nicht den geringsten Anspruch auf Repräsentativität erheben, egal, wie zufällig oder nicht zufällig sie zusammengesetzt sind.

Das Spannende an einem Bürgerrat ist der Diskurs. Vor allem zu Themen von allgemeiner Relevanz, bei denen sich „richtige“ Entscheidungen nicht unmittelbar aus der Faktenlage ergeben, sondern durchaus einer ethischen Abwägung bedürfen.

Bürgerräte können also ein wunderbares Format sein, um „Deutschlands Rolle in der Welt“ zu diskutieren, um über eine Wahlrechtsreform zu sprechen, sogar um Politikerdiäten zu verhandeln, um Impflicht zu debattieren oder klimaschutzbedingte Veränderungen zu durchdenken.

Sie sind ganz ausgezeichnet geeignet, um Zukunfts- und Gestaltungsthemen zu erörtern, weil ihre Zusammensetzung die Wahrscheinlichkeit der hohen emotionalen Betroffenheit minimiert und damit freie Diskurse ermöglicht.

Aus genau diesem Grund sind sie aber überhaupt nicht geeignet, um konkrete Konflikte zu bewältigen. Da müssen die Betroffenen beteiligt werden, nicht die Nichtbetroffenen. Da geht es nicht um Politikberatung, sondern um Bürgerbeteiligung. Und Gute Beteiligung ist immer Betroffenenbeteiligung.

Gerade auf der kommunalen Ebene findet schon heute in Deutschland viel gute Beteiligung statt. Die Betroffenen dabei nicht nur zu lokalisieren, sondern auch zur Beteiligung zu animieren, ist dabei eine ganz besondere Herausforderung.

Manchmal ist da die Versuchung groß, doch lieber auf „Zufallsbürger*innen“ zurückzugreifen – kann leichter in der Besetzung sein und den Prozess konfliktfreier machen.

Funktioniert aber nicht. Schon systemisch ist es Unsinn, einen lokalen Konflikt konfliktfrei bearbeiten zu wollen. Und Konflikte mit Nichtkonfliktbeteiligten zu lösen ist, nun ja, von einer geringen Erfolgswahrscheinlichkeit geprägt.

Sind Bürgerräte also nur etwas für große nationale Themen? Nur denkbar als partizipatives Bundestags-Add-On?

Absolut nicht. Wir haben das Potential der Bürgerräte noch lange nicht erschlossen. Die Rundfunkräte und Programmkommissionen der großen Sender zum Beispiel werden noch heute völlig intransparent mit Stakeholdern bestückt. Das könnten losbasierte Gremien tatsächlich besser.

Überall da, wo wir bislang versuchen aus der Summe von zementierten Partikularinteressen Gemeinwohl zu generieren, sollten wir über Bürgerräte nachdenken.

Auf kommunaler Eben sind Stadtentwicklungspläne, Klimaschutz und Klimawandelanpassung, Mobilitätsentwicklung und Rahmenbedingungen für ein gutes Leben wunderbare Themen für losbasierte Gremien.

Wo es um Ideen geht, um Abwägen und die Berücksichtigung möglichst vieler Erfahrungen und Sichtweisen, da können auch lokale Bürgerräte Diskurse führen – und auf lokaler Ebene sogar in breitere Kreise tragen.

Kombinieren wir sie dann noch geschickt mit weiteren Formaten der Bürgerbeteiligung und vielleicht sogar einem Bürgerhaushalt – dann entwickeln wir nach und nach jene Beteiligungskultur, die wir wollen und brauchen, um die Transformationsprozesse der Zukunft gemeinsam zu bewältigen. So gesehen, können wir nicht nur ein Dutzend Bürgerräte gebrauchen, sondern Hunderte, ja Tausende im ganzen Land.

Demokratie ist kein Zufall, aber der Zufall kann – klug eingesetzt – die Demokratie bereichern.

Wie das ganz praktisch geht, darüber sprechen wir in der kommenden Woche. Denn bis heute war kein Bürgerrat wirklich absolut zufällig besetzt. Das wird auch in Zukunft nicht so sein. Aber das ist kein Problem.

Wenn man weiß, wie es geht. Und es geht. Sogar auf vier sehr unterschiedlichen Wegen. Alle vier schauen wir uns an. Und zwar ganz genau.

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