#123 | Die Gruppe ist der Feind

Warum Abstimmen in demokratischen Prozessen manchmal mehr schadet, als nutzt.

Ausgabe #123 | 12. Mai 2022

Die Gruppe ist der Feind

Der Film „Die zwölf Geschworenen“ aus dem Jahr 1957 gilt als großer Klassiker, ja als einer der besten 100 Filme der Kinogeschichte.

Bis heute dient er Soziolog*innen und Psycholog*innen, sagt Wikipedia, „als ein Musterbeispiel zur Anschauung von Rollenverhalten, Gruppenverhalten und gruppendynamischen Prozessen.“

Und genau das ist er im Grunde nicht.

Der Film, der ausschließlich in einem Juryraum bei einem typisch US-amerikanischen Schwurgerichtsprozess spielt, ist völlig unrealistisch.

Er beginnt mit einer typischen, ersten Probeabstimmung. Alle bis auf ein Jury-Mitglied plädieren auf schuldig.

Das ist problematisch. Jurys müssen sich stets auf ein einstimmiges Urteil einigen. Im Film sind alle genervt, nach sechs Prozesstagen wollen alle nur noch zurück in ihr eigenes Leben.

Also beginnt ein brutaler Diskursmarathon und Nervenkrieg.

Er dauert Stunden, fördert unglaubliche Emotionen zu Tage und bietet Schauspielkunst vom Feinsten. Am Ende fällt ein Jury-Mitglied nach dem anderen um – der Angeklagte wird freigesprochen und entgeht der Todesstrafe.

Was ist daran unrealistisch?

Das Ergebnis. Tatsächlich entscheidet sich in nahezu allen Fällen das Schicksal des Angeklagten in den ersten Minuten der Jury-Sitzung.

So zeigte eine Untersuchung US-amerikanischer Schwurgerichtsurteile schon im Jahr 1966, dass in 215 von 225 Fällen die erste Abstimmung vor der Beratung bereits eine Tendenz zu „schuldig“ oder „nicht schuldig“ hatte und dass das (einstimmige) Urteil in 209 dieser 215 Fälle letztlich genau so lautete.

Egal, welche Argumente dieser ersten Abstimmung folgen, am Ende setzt sich die ursprüngliche Mehrheit durch.

Und das nicht per Abstimmung, sondern tatsächlich in einem konsensfixierten Verfahren. Fachleute kennen das Phänomen als „Gruppenpolarisation“.

Eine Erklärung dafür ist das sogenannte „Modell der überzeugenden Argumente.“

Anfangs kommen die meisten Beteiligten zwar zum gleichen Ergebnis, haben dafür aber unterschiedliche Argumente. Kommen diese dann in der anschließenden Debatte alle auf den Tisch, hören die meisten Beteiligten weitere, unterstützende Argumente für ihre Position. Sie werden bestärkt, in ihrer Meinung immer entschiedener und weniger offen für andere Positionen.

Wird in der ersten Abstimmung noch dazu deutlich, dass eben diese Einschätzung auch noch Mehrheitsmeinung ist, ist alles, was folgt, kein ergebnisoffener Diskurs mehr, sondern nur noch Manifestation der Mehrheit.

Das ist einer der Gründe, warum erfahrene Beteiligungsprofis Abstimmungen in Beteiligungsprozessen wo immer möglich unterbinden.

Von Kritiker*innen wird, gerade bei konfliktgetriebenen Prozessen, dann schnell der Vorwurf der Manipulation erhoben. Das Gegenteil ist richtig: Abstimmungen, insbesondere zu Beginn von Diskursen, wirken manipulativ, wie unser Jury-Beispiel zeigt.

Gegen die Vorfestlegungen solcher Abstimmungen erfolgreich zu argumentieren, gelingt im Grunde nur in Hollywood.

So verwirrend es also klingt: Anders als direktdemokratische Entscheidungen oder bei Wahlen zu repräsentativen Organen ist im Bereich der Bürgerbeteiligung eine Abstimmung nicht nur überflüssig, sondern sogar schädlich.

Denn die Ergebnisse von Beteiligung beziehen ihre Legitimation am Ende ja nicht daraus, dass „alle“ entschieden haben (direktdemokratisch) oder die Beteiligten durch Wahlen bestellt wurden (repräsentativ), sondern allein aus der Qualität der Diskurse.

Egal, ob die Beteiligten ausgesucht oder ausgelost wurden – oder sich selbst rekrutiert haben: Ein Recht, über nicht anwesende Betroffene zu entscheiden, ist daraus nicht abzuleiten. Nicht jeder hat die Zeit, die Erfahrung oder die Kompetenz, um sich zu beteiligen. Und in der Regel haben die meisten potentiell Betroffenen ohnehin nie von diesem Angebot erfahren.

In der Beteiligung wird also debattiert, nicht entschieden. Klingt einfach, ist aber tatsächlich damit noch lange nicht klar.

Denn es gibt noch ein weiteres, empirisch ebenfalls belegtes, Erklärungsmuster für die eingangs geschilderte Gruppenpolarisation:

Die Theorie des sozialen Vergleichs erklärt das Phänomen mit dem Wunsch der Individuen, von der Gruppe gemocht zu werden. Wer den Äußerungen der Anderen eine gewisse Tendenz entnimmt, stellt sich als besonders musterhaftes Gruppenmitglied dar, indem er diese in stärkerem Maße vertritt.

Um diese Wirkung zu erzielen, muss man nicht einmal abstimmen.

Es reicht schon, wenn wir mit einer klassischen Eingangsrunde beginnen, in dem „jeder einfach mal seine Meinung sagt“. Startet sie dann (zufällig oder nicht) auch noch mit einigen in der Gruppe besonders angesehenen Beteiligten, ist die Sache schon durch.

Am Ende kann häufig sogar ein weiteres Phänomen stehen: Das Ergebnis einer Gruppendiskussion, beispielsweise die Meinung über die Höhe einer Strafe oder die Steuererhöhung, fällt unter bestimmten Bedingungen extremer aus als die durchschnittlichen Positionen/Tendenzen der einzelnen Gruppenmitglieder vor der Diskussion.

So wird am Ende nicht nivelliert, sondern radikalisiert.

Wir erleben es in den digitalen sozialen Blasen ebenso wie an klassischen Stammtischen: Es wird debattiert, aber am Ende steht kein Konsens, sondern Radikalisierung.

Was aber heißt das nun für gesellschaftliche Debatten, insbesondere in Beteiligungssituationen?

Abstimmungen sind ein No-Go. Das ist klar, reicht aber nicht. Tatsächlich ist es Aufgabe eine Moderation, so lange wie möglich zwei Dinge hinauszuzögern: klare Positionierung der Beteiligten und eine darauf basierende Gruppenbildung.

Die Gruppe ist der Feind des Diskurses.

Weil sie radikalisiert, auch und gerade in der Debatte mit anderen Gruppen.

Meinungen und Argumente zu Beginn eines Beteiligungsprozesses zu sammeln, kann durchaus angebracht ein – aber eben losgekoppelt von Individuen, über eine der unzähligen dafür geeigneten Methoden.

Die Faustregel lautet: Alles, was schnelle Gruppenbildung verhindert, ist hilfreich.

Denn sie ermöglicht nicht nur den Austausch von Argumenten, sondern die Beschäftigung mit Argumenten.

Und das sind nun einmal, wie wir alle wissen, zwei sehr verschiedene Dinge.

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Karin Rasmussen
13. Mai 2022 17:04

Danke, Herr Sommer, für Ihren Mut und Ihre Hartnäckigkeit! Ich wünsche mir, dass mehr Diskurs und weniger manipulative Berichterstattung auch in den öffentlich-rechtlichen Medien Platz finden. Das scheint allerdings schon an der „Abstimmungskultur“ in Redaktionskonferenzen zu scheitern. So ist es kein Wunder, dass Demokratie in den meisten Köpfen immer noch platt auf die momentanen Mehrheitsverhältnisse reduziert wird. Wo soll da Beteiligungsfreude entstehen?

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