Ausgabe #137 | 18. August 2022
Auf der Jagd nach den Bedürfnissen
Der Roman Sophies Entscheidung von William Styron ist eine komplexe und dichte Erzählung über ein Dreiecksverhältnis, über die Traumata von Holocaust-Überlebenden und viele Dinge mehr.
Er wurde 1982 von Hollywood verfilmt, erstaunlich action-arm und werkgetreu. Meryl Streep bekam sogar einen Oscar für die von ihr gespielte Hauptrolle der Sophie.
Auch weil sie die Schlüsselszene des Films so eindringlich spielte, dass sie viele Kinobesucher noch Wochen später nicht vergessen konnten.
Diese Szene spielt in Auschwitz, direkt auf der Rampe des Vernichtungslagers der Nazis.
Sophie steigt mit ihrem siebenjährigen Sohn Jan und ihrer vierjährigen Tochter Eva aus dem Zug – und wird von einem angetrunkenen SS-Arzt inspiziert.
Dem versichert sie Katholikin zu sein, worauf er sich eine besondere Form der Gnade einfallen lässt:
Sie soll wählen, welches ihrer beiden Kinder sie behalten will – und welches in den Tod geschickt wird.
Sophie drückt ihre beiden ängstlichen Kinder fest an sich. Als der Arzt daraufhin einen Wachmann ruft und ihm befiehlt, ihr beide Kinder wegzunehmen, sagt Sophie schließlich mit zitternder und von Tränen unterdrückter Stimme:
„Nehmen sie die Kleine! Nehmen sie die Kleine!“
Sophies Entscheidung bestand also darin, zwischen ihren Kindern wählen zu müssen:
Welches darf am Leben bleiben und welches muss in den Tod gehen?
Ein klassisches Dilemma: Zwei alternative Entscheidungen, aber beide lösen erkennbar das Problem nicht. Und eine Nicht-Entscheidung ist ebenfalls keine Option.
Ein Dilemma ist also etwas Schlechtes. Etwas, was man unbedingt vermeiden sollte. Diese Haltung ist nachvollziehbar.
Deshalb klingt es auf den ersten Blick erstaunlich, dass es eine Methode in der Demokratieförderung gibt, die ganz bewusst auf Dilemmata hinarbeitet.
Diese Methode ist über 30 Jahre alt – und tatsächlich im modernen Israel entwickelt worden, dem Staat, der von Holocaust-Überlebenden gegründet wurde, und dessen Geschichte für immer mit den Dramen von Auschwitz verknüpft sein wird.
1988 entwickelte Uki Maroshek-Klarman ein Konzept mit dem schlichten Namen „Betzavta“. Zu Deutsch heißt dieses Wort: „Miteinander“.
Israel ist nicht nur vom historischen Erbe des Holocaust geprägt, sondern auch von dem Konflikt zwischen Juden und Palästinensern, die den Staat seit dessen Gründung begleitet.
Die Betzavta-Methode ist vor diesem Hintergrund entstanden.
Es handelt sich um ein Erziehungs- und Bildungskonzept zur Demokratie- und Toleranzerziehung, das seine Wurzeln in der israelischen Friedensbewegung hat, die für eine Aussöhnung zwischen den Völkern eintritt.
Die Betzavta-Methode ist komplex. Betzavta-Trainer*innen durchlaufen eine anspruchsvolle Ausbildung. Das gesamte Konzept in wenigen Zeilen zu schildern, ist nicht ganz einfach. Aber, wie so oft in diesem Newsletter:
Wir trauen uns trotzdem.
Denn Betzavta ist zwischenzeitlich ein Trend und gerade auch in Deutschland in zahlreichen Demokratie-Förderprojekten beinahe schon ein gewisser Standard geworden. Und das ist gut so.
Regelmäßige Leser*innen meines Newsletters wissen, dass ich von der Idee, Demokratie in Schulen und anderswo zu „lehren“ nicht wirklich überzeugt bin.
Demokratie ist eine Kulturpraxis. Die lehrt, prüft und benotet man nicht. Die praktiziert man. Und lernt sie zu schätzen, weil man sie erlebt.
Tatsächlich ist dies genau der Fokus der Betzavta-Methode.
Vereinfacht gesagt, geht es darum, Konflikte gemeinsam zu bearbeiten, zunächst Scheinkonflikte abzugrenzen und echte Konflikte herauszuarbeiten. Diese Konflikte werden dann im Laufe des Prozesses möglichst zu einem Dilemma verdichtet.
Die Erkenntnis eines solchen Dilemmas heißt. Eine Entscheidung zwischen den unterschiedlichen Optionen wäre immer eine Entscheidung gegen einen Teil der Konfliktbeteiligten.
Diese Erkenntnis ist ein wichtiger Schritt auf der „Jagd nach den Bedürfnissen“. Denn genau darum geht es bei Betzavta: Das herausarbeiten unterschiedlicher Bedürfnisse und die Akzeptanz, dass sie alle eine Berechtigung haben.
Die Position des Anderen wird in einem gelungenen Prozess nicht mehr als „einfach falsch“ abgelehnt, sondern als Alternative gesehen, für die man sich unter anderen Umständen womöglich auch entschieden hätte.
Das Bewusstsein für die Schwächen und Stärken der möglichen Alternativen soll dann dazu motivieren, gemeinsam neue Alternativen mit weniger Nachteilen für alle zu suchen.
„Recht haben“ ist also bei Betzavta keine Option, und schon gar kein Weg zur Konfliktlösung.
Es geht auch gar nicht darum, die Meinung der einzelnen Beteiligten grundsätzlich zu ändern, sie zur „Einsicht“ oder auch nur zum „Einlenken“ zu bewegen.
Es ist völlig in Ordnung, wenn am Ende eines solchen Prozesses niemand seine Meinung geändert hat.
Es geht um etwas anderes:
„Wenn man die Position des anderen nicht mehr als gegnerische und zu bekämpfende Position bewertet, sondern nur noch als die Position, für die man sich selbst in diesem konkreten Fall nicht entschieden hat, dann fällt es in einem nächsten Schritt möglicherweise leichter, diese Position von der Person zu trennen und anschließend nach einer Lösung des Konflikts zu suchen, die die Freiheit von beiden Parteien so wenig wie möglich einschränkt.“
Dies schreibt das Centrum für angewandte Politikforschung an der Uni München, welches das israelische Konzept maßgeblich für die deutsche Demokratiebildung aufgeschlossen hat.
Dass diese Methode, klug angewendet, so ganz „nebenbei“ auch noch perfekte Trainingsmöglichkeiten für zugewandte Fragetechniken, gewaltfreie Kommunikation und neue Formen der Konsens- und Kompromissbildung bietet, ist eine der gewollten Stärken dieses Konzeptes.
Betzavta ist interessant für all jene Menschen, die sich mit Demokratieförderung und -bildung beschäftigen.
In der Bürgerbeteiligung in Deutschland spielt es tatsächlich kaum eine Rolle.
Und das ist schade.
Denn gerade in Fällen, wo vermeintlich unvereinbare Positionen aufeinanderprallen, können Betzavta-Elemente helfen. Sie bilden Grundlagen für breit akzeptierbare Lösungen, die langfristig Bestand haben können.
Denn diese Methode hilft letztlich vor allem dabei, eines herauszubilden: Echte Toleranz gegenüber anderen Meinungen und Bedürfnissen.
Das ist nicht nur gut. Es ist wichtig. Für Demokratien tatsächlich: überlebenswichtig.