Ausgabe #140 | 8. September 2022
Der agile Lux
Horst Hesse überlebte sein Todesurteil um nahezu 50 Jahre.
Hilfreich war dabei sicher, dass der deutsche Spion von einem US-Gericht in Abwesenheit verurteilt wurde.
Zum Zeitpunkt des Urteils befand er sich bereits in der damaligen DDR. In die war der ehemalige Agent des amerikanischen Militärnachrichtendienstes MID im Jahr 1956 auf abenteuerliche Weise und mit hoch geheimen Unterlagen im Gepäck geflüchtet.
Seine Geschichte wurde in Büchern beschrieben, in Reportagen seziert und sogar in einem Kinofilm gewürdigt. Dennoch nahm er einige Geheimnisse mit ins Grab, als er im Dezember 2006 eines natürlichen Todes starb.
Sicher wissen wir nur, dass er als Agent der DDR unter dem Decknamen „Lux“ in einer Zeit beim amerikanischen Nachrichtendienst Karriere machte, als dieser ernsthafte Pläne zur gewaltsamen Eroberung der DDR ausarbeitete.
Einige davon waren bis ins kleinste Detail durchkomponiert, inklusive koordinierter Provokationen, anschließender Panzerschlachten und ausgefeilten Besetzungsstrategien.
Getreu den vorgeschriebenen Verfahrens- und Prozessregeln wurden diese und die Daten der US-Spione auf DDR-Boden in einbruchsicheren Panzerschränken aufbewahrt.
Hesse wusste davon und bekam von seinen Agentenführer den Auftrag, die Inhalte dieser Panzerschränke zu übermitteln.
Doch die waren zu gut gesichert.
Hesse aber hatte das, was gute Agenten auszeichnet: Kreativität, Talent zur Improvisation und die Fähigkeit, zwischen dem Wortlaut des Auftrages und den wirklichen Bedürfnissen des Auftraggebers zu unterscheiden – und letzteren die Priorität zu widmen.
Also organisierte Hesse, dass eines Nachts niemand außer ihm in der MID Zentrale war. Er besorgte sich Helfer und ein stabiles Auto. Dann packten die Spione schlicht die kompletten gusseisernen Panzerschränke ins Auto und entkamen tatsächlich mitsamt ihrer Beute über die Zonengrenze in die DDR.
Was genau darin war, ist bis heute nicht sicher. Über 500 MID-Agenten in der DDR wurden anschließend jedoch enttarnt und detaillierte Angriffspläne veröffentlicht, von denen die USA behauptetet, sie seien vollständig erfunden.
Welche Version stimmt, interessiert die Historiker, uns aber weniger.
Was uns allerdings beindruckt: Da hat ein einzelner Mann frech und unkonventionell einen ganzen Geheimdienst mit ausgetüftelten und langjährig optimierten Prozessen vollständig desavouiert.
Warum?
Weil Hort Hesse das hatte, was man heute ein „agiles Mindset“ nennen würde.
Und genau darum soll es ja heute gehen. Um die Vorteile, die agiles Denken auch in Prozessen der demokratischen Teilhabe bietet.
In der vergangenen Woche haben wir gesehen, wie und wo das Konzept des agilen Arbeitens entstanden ist. Vor allem zwei der vier agilen Werte hatten es uns angetan:
- Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen.
- Eingehen auf Veränderung steht über dem Befolgen eines Plans.
Das darauf basierende agile Mindset wird allerdings häufig missverstanden.
Agilität kann tatsächlich leicht mit Flexibilität verwechselt werden. Doch Agilität ist etwas völlig anders als anarchische Improvisation.
Auch Agilität ist zielorientiert.
Tatsächlich sogar mehr als herkömmliches Prozessdenken. Das Ziel ist alles, der Weg dort hat sich ihm anzupassen. Und dazu wird dieser Weg eben nicht vorab ausdekliniert, sondern Schritt für Schritt gemeinsam entwickelt.
Das klingt erst einmal harmlos, hat jedoch ernsthafte Konsequenzen für den ganzen Prozess und alle beteiligten Akteure.
In einem durchgeplanten Prozess regiert die Statik. Alle Beteiligte haben klare Rollen und Funktionen. Was nicht so läuft wie geplant ist ein Fehler und muss korrigiert werden. Weder der Prozess noch die Beteiligten dürfen sich entwickeln. Unerwartete, nicht eingeplante Konflikte sind störend oder gar gefährlich.
In agilen Prozessen gibt es keine Fehler, wohl aber Lernprozesse.
Zwischenschritte werden gemeinsam definiert und können sich ändern. Am Ende stehen die Ergebnisse, die die beteiligende Institution braucht – sie können in Teilen durchaus von jenen abweichen, die sie bestellt hat.
Ein agiles Mindset geht davon aus, dass Prozesse und Beteiligte sich entwickeln können, ja sollen. Das kann durchaus auch einmal Rückschritte, Umwege, neue Zieldefinitionen erfordern. Und manchmal auch den Mut, zuzugeben, dass einzelne Ziele noch nicht erreicht werden können.
„Individuen und Interaktionen stehen über Prozessen und Werkzeugen“ heißt in der demokratischen Teilhabe dann in letzter Konsequenz auch:
Kein Format, keine Methode ist wichtiger als die Beteiligten.
Sie bekommen die Formate, die sie benötigen, um das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Und da ist es eher wahrscheinlich als überraschend, wenn es Modifikationen der vorgeschlagenen Verfahrensweisen bedarf.
Ein agiles Mindset sieht solche Situationen als Bestätigung dafür, dass die Beteiligung gelingt. Ein traditionelles, prozessfixiertes Mindset sieht es als Störung.
Agilität bedeutet nicht Chaos, sondern zielorientierte Wendigkeit und Anpassungsfähigkeit.
Sie hält nicht nur die Beteiligten bei der Stange, sondern die Beteiligung flexibel, effizient und vor allem: resilient.
Denn Gute Beteiligung ist eben vor allem eine gemeinsame Forschungsreise von Beteiligten und Beteiligenden. Gemeinsam erschließen sie Neues. Was wann in einem Beteiligungsprozess gut ist, entscheidet sich im Prozess, nicht vorher.
Dieses Lernen im Verfahren, ein lernendes Verfahren also, nicht nur zuzulassen, sondern bewusst zu forcieren: Das ist ein agiles Mindset.
Ob Softwareentwicklung, Top-Spionage oder ganz solide Bürgerbeteiligung in der Kommune:
Agil zu denken ist oft der entscheidende Faktor für den Erfolg.