Ausgabe #150 | 17. November 2022
Die neunte Intelligenz
Die ganzen Probleme begann mit einem Kissen.
Einem Kopfkissen.
Dem Kopfkissen unserer Tochter.
Wir erwischten die Zweitklässlerin, als sie sich damit eines morgens aus dem Haus schleichen wollte.
Sie hatte ihren Schulranzen gepackt, ihr Vesper eingetütet, die Jacke angezogen und ihr Kopfkissen geschnappt.
Wir neugierigen Eltern wurden dann auch rasch aufgeklärt. Das Kissen brauche sie, weil der Schultisch zu hart sei. Da könne man nicht ordentlich drauf schlafen. Mit Kissen sei das viel bequemer.
Wir waren irritiert. Denn die Noten unserer Tochter bewegten sich regelmäßig zwischen 1,0 und 1,0. Dass sie außerdem jeden Tag ein Dutzend kleinstteiliger Zeichnungen aus der Schule mit nach Hause brachte, hätte uns stutzig machen sollen.
Das Kissen weckte uns auf.
Das kurzfristig anberaumte Gespräch mit der Klassenlehrerin ließ ein stillschweigendes Arrangement zwischen Schule und Tochter auffliegen: Sie machte im Unterricht was sie wollte, störte dafür nicht, antwortete stets präzise auf jede Frage, lieferte ab, was geprüft wurde – und alles war gut.
Nichts ist natürlich gut für Eltern, die so etwas erfahren.
Und so begann die Odyssee. Intelligenztests (Irgendwas über 140; mehr konnte die in ihrem Alter nicht messen). Beratungstermine bei der Fachstelle („Tut uns leid, Ihr Kind ist hochbegabt, da können wir auch nichts machen“). Der Versuch, das Kind über zusätzliche Angebote zu beschäftigen (Deutsche Schachvizemeisterin der unter Achtjährigen). Gespräche mit dem Schuldirektor („Am besten ein Internat für Hochbegabte“).
Am Ende blieb nur die typische Lösung, die unser Bildungssystem für solche Kinder anbieten kann:
Ein Jahr weniger Unterricht.
Es dauerte Jahre, bis unsere Tochter sich halbwegs mit unserem Bildungssystem arrangieren konnte. Also so, dass sie nicht weiter auffiel.
Zwei Dinge haben wir damals gelernt. Hochbegabung ist kein Segen und kein Vorteil, weder für die Eltern, noch für das Kind. Und: Intelligenztests sind sinnfrei.
Ein Bildungswissenschaftler sagte uns damals: „Intelligenztests messen keine Intelligenz, sondern nur, wie gut jemand Intelligenztests bewältigt.“ und: „Fast alle Kinder sind hochbegabt, aber viele haben Begabungen, für die sich unsere Schule nicht interessiert.“
Tatsächlich gibt es nicht nur multiple Begabungen, sondern eben auch multiple Intelligenzen.
Schon in den 1980er Jahren entwickelte Howard Gardner seine „Theorie der multiplen Intelligenzen“ – weil nach seiner Überzeugung die klassischen Intelligenztests nicht ausreichen, um Fähigkeiten zu erkennen und entsprechend zu fördern.
Im Mittelpunkt stehen acht Intelligenzen, darunter u.a die
sprachlich-linguistische Intelligenz, die logisch-mathematische, die musikalisch-rhythmische und die interpersonale Intelligenz (ähnlich der sozialen Intelligenz nach David Wechsler).
Viele Intelligenztests interessieren sich überwiegend für die logisch-mathematische Begabung, die auch der landläufigen Vorstellung von Intelligenz am nächsten kommt.
Doch es gibt eben noch weitere Ausprägungen. Einige davon sind für den Erfolg in der Schule relevanter als andere. Und für einen späteren Erfolg in der Wirtschaft können es wieder andere sein. Ein spannendes Feld. Das uns zu der nicht minder spannenden Frage führt:
Gibt es eigentlich auch eine demokratische Intelligenz?
Es ist natürlich nur ein Gedankenspiel. Aber tatsächlich zog Howard Gardner neben seinen acht Intelligenzen noch eine weitere neunte in Betracht, die spirituelle Intelligenz – besonders ausgeprägt bei Philosophen und religiösen Führern.
Vor diesem Hintergrund dürfen wir uns das besagte Gedankenspiel also durchaus einmal gönnen.
Was würde demokratische Intelligenz also vor allem definieren?
Zunächst einmal die Fähigkeit auch unausgesprochene Motive, Gefühle und Absichten anderer Menschen nachempfindend zu verstehen (Gardners interpersonale Intelligenz).
Sicher auch die Fähigkeit, sich für diese Motive, Gefühle und Interessen aufrichtig zu interessieren.
Ebenso die Fähigkeit, anzuerkennen, dass es unterschiedliche Motive, Gefühle und Interessen gibt, die auch diametral entgegengesetzt und dennoch gleichermaßen berechtigt sein können.
Dazu die Fähigkeit, an der Abwägung unterschiedlicher Motive, Gefühle und Interessen mitzuwirken, damit verbundene Konflikte auszuhalten und zu verstehen, dass jede Art von Lösung, ob Konsens oder Mehrheitsentscheidung stets nur befristete Gültigkeit haben kann.
Mindestes eine, weitgehend unterschätzte Fähigkeit käme noch dazu:
Die Fähigkeit, es auszuhalten, wenn die eigenen Motive, Gefühle und Interessen nicht oder nicht uneingeschränkt durchsetzbar sind.
Sicher fallen Ihnen noch weitere Fähigkeiten ein. Wir sehen bei unserem Denk-Experiment aber jetzt schon:
Unsere imaginäre demokratische Intelligenz ist wohl bei verschiedenen Menschen unterschiedlich ausgeprägt – und bei manchen Menschen in unserem persönlichen Umfeld nur rudimentär vorhanden.
Legen wir also diese Messlatte an, müssen wir konstatieren: So manche Kundgebung, die ein oder andere politische Diskussion, nicht wenige Bürgerversammlungen werden von Menschen dominiert, deren demokratischer Intelligenzquotient sich im kaum messbaren Bereich bewegt.
So demokratische Diskurse erfolgreich zu führen, ist natürlich schwer.
Wie also damit umgehen? Im Grunde gibt es zwei Lösungspfade, die sich nicht widersprechen, eher ergänzen:
- Strukturen zu schaffen, die Demokratie sicherstellen – unabhängig von der demokratischen Intelligenz der Beteiligten.
- Strukturen zu schaffen, die zur Entwicklung der demokratischen Intelligenz der Menschen beitragen.
Tatsächlich sind wir in beiden Handlungsfeldern bislang nicht besonders gut.
Demokratische Intelligenz verhilft nicht zu guten Schulnoten, deren Förderung oder auch nur Honorierung ist in weiten Teilen unseres Bildungssystems nicht vorgesehen.
Und unsere demokratischen Prozesse stoßen Menschen mit geringer demokratischer Intelligenz eher ab – und umgekehrt.
Das ist gefährlich.
Vielleicht hilft genau dieses imaginäre Konstrukt einer demokratischen Intelligenz uns dabei, hier an beiden Stellen langfristig nachzubessern.
Wobei es schon heute hilft: Entspannter in Konflikten mit Menschen umzugehen, die wenig oder kaum Fähigkeiten unserer „neunten Intelligenz“ mitbringen.
Meine persönliche bildlich-räumliche Intelligenz zum Beispiel ist wenig ausgeprägt, meine musikalisch-rhythmische Intelligenz nicht vorhanden. Meine sprachlich-linguistische Intelligenz sichert dagegen meinen Lebensunterhalt.
Für nichts davon kann ich etwas.
Nichts davon macht mich zu einem schlechteren oder besseren Menschen.
Nichts davon sollte dazu herhalten, mir mehr oder weniger Wertschätzung entgegenzubringen.
Wenn wir im nächsten Diskurs, im nächsten Beteiligungsformat, auf dem nächsten Podium also mit Menschen interagieren, die vielleicht begnadete Logiker*innen, Musiker*innen, Ingenieur*innen sind – aber demokratische Diskurse nicht fehlerfrei bewältigen, dann darf das kein Grund für Arroganz oder Verachtung sein.
Oder dafür, ihnen das Recht auf demokratische Beteiligung abzusprechen.
Sondern nur ein Grund, für jene mit einem hohen demokratischen Intelligenzquotienten, ihre Fähigkeiten im Sinne aller einzubringen.
Denken wir also daran, wenn es das nächste Mal knirscht im demokratischen Getriebe. Dann hat die Idee der „demokratischen Intelligenz“ wirklich geholfen.
Und nur darum geht es.