Ausgabe #158 | 12. Januar 2023
Die Unbeteiligten
Was haben Zoe Kravitz, Jack Quaid und Lily-Rose Depp gemeinsam?
Ihre Namen kommen uns bekannt vor.
Nicht so richtig, aber irgendwie.
Einfacher wird es, wenn wir die Namen der jeweiligen Väter lesen: Lenny Kravitz, Dennis Quaid und Johnny Depp sind global bekannte Stars.
Ihre Kinder sind ebenfalls im Medienbusiness tätig. Und das durchaus erfolgreich.
Sie sind sogenannte Nepo-Babys.
Der Begriff wurde erst im vergangenen Jahr auf TikTok geprägt. Dem Ort, an dem viele dieser Starkinder zu finden sind.
Die Bezeichnung leitet sich von Nepotismus ab, der ungerechtfertigten Bevorzugung von Verwandten.
Es geht also um berühmte Kinder berühmter Eltern und die Vermutung, dass sie nur deshalb so erfolgreich sind, weil ihre Eltern ihnen behilflich waren.
Das kann durchaus so sein, aber genauso auch von anderen Komponenten abhängen.
Zum Beispiel wissen Kinder der Stars sehr gut, wie das Business funktioniert, kennen die Schattenseiten, wissen, worauf sie sich einlassen und sind deshalb in der Branche auch leichter „verwertbar“.
Sie sind, selbst dann, wenn sie sich als Rebell*innen geben, Teil eines erstaunlich homogenen kulturellen Milieus, sie beherrschen die Codes, gehören dazu oder können sich zumindest dann milieukompatibel verhalten, wenn es darauf ankommt.
Dieses Phänomen kennen wir in vielen Bereichen. In der Wirtschaft ist es von Vorteil, ähnliche Familien- und Ausbildungshintergründe zu haben wie die jeweiligen Vorgesetzten. Golf ist schon lange für viele Manager*innen kein Hobby, sondern ein Karrieretool geworden.
Schon in Grundschulen sind die richtigen Vornamen, Ortsteile, Elterneinkommen von Vorteil. In deutschen Gymnasien sind die Milieus aus denen Schüler*innen und Lehrende kommen erstaunlich homogen.
Mit Nepotismus hat das alles wenig zu tun, viel mehr vor allem mit zwei Faktoren:
- Fast alle Menschen arbeiten lieber, enger und oft auch harmonischer mit jenen zusammen, die einen sehr ähnlichen kulturellen Hintergrund haben.
- Strukturen werden immer von den Milieus ihrer Führungskräfte geprägt. In diesen Strukturen sind jene erfolgreicher, die demselben Milieu entstammen.
Tatsächlich gelten diese Zusammenhänge längst nicht nur für Filmschauspieler*innen und Manager*innen, sondern auch in demokratischen Strukturen.
Als Ergebnis freier, gleicher und geheimer Wahlen, repräsentieren die politischen Parteien in den Parlamenten zwar die vielfältigen Interessen in Deutschland. Ihre soziale Zusammensetzung entspricht jedoch nicht wirklich unserer Bevölkerung.
Unsere Parlamentarier*innen sind tendenziell männlicher, älter, wohlhabender, gebildeter, sprachgewandter, deutscher, ja sogar adeliger als der Durchschnitt der Bevölkerung – und stammen überproportional aus erfolgreichen Familien.
Das ist in den Parteien unterschiedlich ausgeprägt, aber tendenziell überall nachweisbar.
Das ist systemimmanent, aber per se noch kein dramatisches Problem. Eine Demokratie wie die unsrige kennt viele Mechanismen und Strukturen, in denen Politik gestaltet wird, da kann sich viel gegenseitig korrigieren und ausbalancieren. Es gibt auch Raum für Wirksamkeit anderer Milieus.
Sollte man denken.
Tatsächlich sind aber erstaunlich viele dieser anderen Strukturen von Menschen aus exakt denselben Milieus geprägt. Ob Lobbyismus der Wirtschaft, ob Wissenschaft, große NGOs oder relevante Medien:
Auch hier sind häufig genau dieselben Akteursgruppen überrepräsentiert.
Es fällt deshalb selten negativ auf, weil auch schon innerhalb dieser gesellschaftsprägenden Milieus eine unglaubliche Bandbreite an Interessen, Sichtweisen und Überzeugungen herrscht.
Eine streitbare, funktionierende Demokratie können jene Milieus ganz ausgezeichnet realisieren.
Die Herausforderung bleibt jedoch: Was bietet diese Demokratie jenen Gruppen, die darin gar nicht oder erheblich unterrepräsentiert sind?
Eine Option zu mehr Teilhabe für jene Gruppen sind die vielen Formate der Bürgerbeteiligung, die zunehmend angeboten und auch eingefordert werden.
Spannenderweise sind auch hier überwiegend die Menschen aus eben jenen gesellschaftsprägenden Milieus die treibende Kraft.
Erst in der vergangenen Woche durfte ich einen Workshop mit einer Gruppe von Bürger*innen einer norddeutschen Kleinstadt moderieren.
Es ging um die Frage, wie dort die Bürgerbeteiligung nach einigen ersten Versuchen verstetigt werden kann, die Gruppe sollte den Auftakt eines Leitlinienprozesses organisieren, sie war offen, es hatte eine öffentliche Einladung gegeben.
Gekommen war ein starkes Dutzend Bürger*innen. Die Jüngste war 18, der Zweitjüngste 54. Die Vorstellungsrunde ergab: zehn Männer, vier Frauen. Drei Vollzeitberufstätige. Acht Akademiker. Zwei Drittel hatten Funktionen in Vereinsvorständen, fünf Anwesende waren aktive oder ehemalige Gemeinderäte bzw. deren Partner*innen. Die junge Abiturientin war Schulsprecherin und Nichte des Bürgermeisters. Genau einer der Anwesenden hatte Migrationshintergrund.
Die Gruppe war wunderbar. Engagiert, klug und durchaus kritisch gegenüber Verwaltung und Politik. Sie wird den Leitlinienprozess vorantreiben, davon bin ich überzeugt.
Aber: Auch dieser Prozess wird, wenn wir nicht aktiv daran arbeiten, von denselben Milieus (und teilweise denselben Personen) geprägt, die ohnehin schon in Gemeinderat, Verwaltung, lokalem Vereinswesen und Wirtschaft wirksam sind.
Ist damit zusätzliche Bürgerbeteiligung überflüssig? Keinesfalls. Nur bleibt sie hinter ihren Möglichkeiten zurück, wenn sie nicht breiter wird.
Die Integration breiter Bevölkerungskreise in politische Teilhabeverfahren ist eine der anspruchsvollsten Aufgaben der Demokratie.
In Fachkreisen sprechen wir von „Breiter Beteiligung“. Und das meint eben ganz besonders
- Menschen, die eine Sprache nicht gut verstehen,
- Menschen mit Sorgen,
- Familien und Alleinerziehende, die wenig Zeit haben,
- Menschen mit wenig Geld oder
- Menschen mit einer Behinderung
Wirksamkeit zu ermöglichen, wie es zum Beispiel die baden-württembergische Allianz für Beteiligung e.V. schreibt.
Breite Beteiligung misst sich also nicht an der reinen Anzahl derer, die mitmachen.
Vielmehr ist eine Beteiligung dann breit, wenn alle Interessen,
Meinungen und Ideen, die es in einer politischen Gemeinschaft gibt, möglichst gut abgebildet sind.
Vielfalt statt Vielzahl lautet die Devise.
Breite Beteiligung folgt somit dem Grundsatz der Inklusivität: Die ohnehin Aktiven und Integrierten, die formal Gebildeten und mittleren Altersgruppen sollen nicht überrepräsentiert sein.
Sondern es sollen alle Gruppen angemessen vertreten sein, die die Entscheidung etwas angeht – auch jene, die ihre Stimme sonst eher selten erheben oder schwer erheben können.
Das wirklich Herausfordernde dabei ist nicht die theoretische Offenheit eines Angebots für jene Gruppen. Das genügt nicht.
Breite Beteiligung öffnet sich nicht nur uneingeschränkt für alle Bürger*innen, sie fördert sogar aktiv die Teilnahme beteiligungsferner Gruppen.
Das schreibt sich leicht und liest sich gefällig.
Doch es bleibt eine Herausforderung. Eine Herausforderung, die Beteiligung aber annehmen und einlösen muss, wenn sie ihrer Aufgabe gerecht werden will.
Dieselben Gruppen, die schon in Wirtschaft, Wissenschaft, Medien, Zivilgesellschaft und Politik wirksam sind, zusätzlich auch noch zu beteiligen, ist nicht das, was wir brauchen.
Gute Beteiligung beteiligt vor allem eben auch die anderswo nicht Beteiligten.
Wir werden in diesem Newsletter dazu in den kommenden Wochen einige Inspirationen, Tools, Formate und Erfahrungen anschauen.
Viele Leser*innen haben sich mehr solche Anregungen gewünscht.
Sie kommen.
Versprochen.
Dazu habe ich ein Verfahren entwickelt und nun bereits über 20 Jahre in Varianten immer wieder erfolgreich angewendet: die Aktivierende Stadtdiagnose. Aber es braucht viel Know-how, Erfahrung und Ressourcen eine breite Beteiligung zu organisieren. Schwierig ist es nicht, politisch gewollt und finanziell unterstützt muss es aber schon sein. Liebe Grüße Cornelia Ehmayer-Rosinak, Stadtpsychologin
Super, solche Vorschläge wünsche ich mir!
Vorschläge und positive Erfahrungen / Beispiele sind sehr willkommen.